Was bringt der deutliche Sieg des CHP Kandidaten Ekrem Imamoğlu, der nunmehr Oberbürgermeister von Istanbul ist, für das demokratische Bündnis gegen das AKP-Regime? Das nationale Paradigma wird von linken und unabhängigen Kräften in Frage gestellt, damit die Machtverhältnisse in der Türkei nicht einfach von einer Großpartei zur anderen zurückwandern. VON ZEYNEM ARSLAN
Das Staatsparadigma der Türkei besteht aus zwei Strömungen, zwischen denen politisch – konjunkturell bedingt – hin- und her gependelt wird. Zum einen handelt es sich dabei um die ethno-nationalistische Strömung, die von den KemalistInnen repräsentiert wird, und zum anderen um die sogenannte islamo-nationalistische Strömung, die seit dem Jahr 2002 durch die (Regierungs-) »Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung« (Adalet ve Kalkınma Partisi, AKP) unter der Führung von Recep Tayyip Erdoğan getragen wird. Letztere verwaltet und regiert das Land bereits seit 17 Jahren unter immer autoritärer werdenden Umständen. Nach Angaben des türkischen Justizministeriums hat sich die Zahl der Inhaftierten in der Türkei in den letzten 17 Jahren vervierfacht. Vor allem sind es JournalistInnen, AkademikerInnen und ehemalige Abgeordnete der pro-kurdischen Partei HDP (Halkların Demokratik Partisi / Demokratische Partei der Völker), die meistens ohne gerichtliches Urteil eingesperrt wurden und von der Außenwelt isoliert sind.
Sieg der Opposition in Istanbul
Die Opposition, die von der Republikanischen Volkspartei (Cumhuriyet Halk Partisi, CHP) getragen wird, hat bei der Wiederholung der BürgermeisterInnenwahl in Istanbul am 23. Juni 2019 [31. März 2019] mit einer absoluten Mehrheit von knapp über 54 Prozent die Führung übernommen. Diese Wahlen wurden durch eine AKP-kritische Mehrheit der IstanbulerInnen entschieden und schufen darüber hinaus eine gesamtgesellschaftliche Stimmung, die die ganze Türkei ergriff und die Öffentlichkeit wie eine Parlamentswahl beschäftigte, zumal Istanbul, eine Megastadt mit rund 16 Millionen EinwohnerInnen, eine Art Spiegel für die gesamte Türkei darstellt. Dieser Sieg ist der Vereinigung demokratischer, linker und unabhängiger Organisationen, die eine große Bandbreite umfasste, zu verdanken. Auch wenn diese Organisationen ideologisch und inhaltlich oft keine Überschneidungen haben, war die Hoffnung auf eine erste Schwächung der AKP-Regierung mittels der Übernahme der Führung Istanbuls – wenn auch durch die andere große System-Strömung im Land, nämlich die CHP – ausreichend für die Verbündung.
Bis dato erschöpften sich alle Versuche zur Bildung einer »losen« demokratischen Front in der Vereinnahmung durch die CHP, die gegen die propagierte Scharia-Gefahr unter der AKP den so genannten »Kemalistischen Laizismus« und die Verherrlichung der IdeologInnen und StaatsgründerInnen ab Ende des 19. Jahrhunderts, zuletzt unter der Führung von Mus tafa Kemal Atatürk, inszenierte (siehe: Cumhuriyet-Proteste ab 2007; Gezi-Proteste 2014; Marsch für die Gerechtigkeit / Adalet 2018).
Die drei Säulen des türkischen Nationalstaats
Die Gründung des türkischen Nationalstaates 1923 baute auf drei Säulen auf. Auf ihnen beruht bis heute auch das nationale Paradigma »türk-türkisch« und »sunnitisch, muslimisch«.
Die erste Säule ist die ethnische Frage, die vor allem durch die kurdische Ethnie seit vielen Jahren aktuell ist. Jene Völker, die der Bildung einer homogenen türkischen Nation im Weg standen, wurden noch zu Beginn der Staatsgründung weitestgehend eliminiert und vertrieben. Jene, bei denen auf die »muslimische Geschwisterlichkeit« gebaut werden konnte (Alevit Innen, KurdInnen), sind mit einem jahrelang andauernden Assimilationsdruck konfrontiert.
Zweite Säule ist der »Laizismus«, der vor allem für die religiösen Gruppen außerhalb des muslimisch-sunnitischen Paradigmas Spannungen bringt. Jene, denen mit der Propaganda des »Laizismus« der Übergang vom Khalifat des Osmanischen Imperiums zur Republik Türkei die Zustimmung abgerungen wurde, steht heute ein sunnitisch-muslimisches Präsidium für religiöse Angelegenheiten (Diyanet İşleri Başkanlığı) mit Status eines Ministeriums gegenüber. Auch ist sunnitisch-muslimischer Religionsunterricht an Schulen obligatorisch.
Die dritte Säule ist das ökonomische Grundgerüst. Die starke ökonomische Abhängigkeit im Weltsystem macht diverse Kompromisse notwendig, die auch aus geostrategischer Sicht eine Rolle spielen, wie den Kauf von Waffen wie dem russischen Raketensystem S-400 einerseits und dem US-amerikanischen Kampfflugzeug F-35 andererseits.
Demokratische Bündnisse gegen das AKP-Regime
Es gab noch andere Versuche der demokratischen Verbündung gegen das autoritär regierende AKP-Regime, wie z. B. den »Demokratischen Kongress der Völker« (tr. Halkların Demokratik Kongresi, HDK), der mehrere Demokratiefraktionen, wie VertreterInnen von religiösen sowie ethnischen Gruppen, Gewerkschaften und Interessenverbänden umfasste. In der Folge verstärkte sich die Kritik, dass die pro-kurdische HDP diese Demokratisierungsprozesse im Interesse einer ethnisch-kurdischen Politik zu vereinnahmen vermochte. Damit stand die HDP im Widerspruch zu ihrer Botschaft im Wahlkampf (2015), »eine Partei der Gesamtbevölkerung in der Türkei« zu sein, und scheiterte letztendlich ebenso mit einer (kurdisch-)ethnisch definierten Identitätspolitik am türkisch-nationalen Paradigma. Als Kritik am HDK wurde die »Plattform der Verbündung für die Demokratie« (tr. Demokrasi için Birlik Platformu, DBP) aufgestellt, die jedoch angesichts der mit der AKP konkurrierenden CHP keine Öffentlichkeitswirksamkeit zu haben scheint.
Skepsis gegenüber CHP
Der Sieger der Istanbuler Wahlen hat einiges versprochen, z. B die Gleichberechtigung der BürgerInnen und aller Völker und religiösen Gruppen im Land (Eşit Yurttaşlık); allerdings hat er keine konkreten Maßnahmen und Ideen vorgelegt, aber gleichzeitig und ständig auf die Säulen des Paradigmas angespielt. In diesem Rahmen wird die Bezeichnung »türk« weiterhin als eine Art »Über-Identität« erzählt, die »alle Volksgruppen und Nationen im Land umfassen« soll. Die Möglichkeit, dass die Wahlpropaganda des Siegers spätestens im Falle der Regierungsübernahme durch seine Partei (CHP) – wie bisher – an den Grenzen des o. g. strukturellen Grundgerüsts des türkischen Staates scheitern würde, hält die Skepsis der demokratischen und »paradigma-kritischen« Kreise im Land wach; sie beobachten das praktische Tun des neuen Bürgermeisters Ekrem Imamoğlu, aber auch der CHP, mit wachsamem Auge.
Zeynem Arslan ist Sozialwissenschaftlerin (post doc) and der Universität Wien, zertifizierte Gruppentrainerin, Projekt- und Veranstaltungsmanagerin, Moderatorin, Autorin, Übersetzerin, derzeit Leiterin von Diversitätsprojekten in der Generaldirektion des Wiener Krankenanstaltenverbunds.
www.zeynemarslan.com