STRAFVOLLZUG: Gefängnis ohne Rückkehr

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Unter dem Titel »Die Schwere der Schuld« hat der Jurist THOMAS GALLI ein Buch verfasst, in dem er auf seine jahrelange Tätigkeit als Gefängnisdirektor zurück blickt. CHRISTOF MACKINGER hat den ehemaligen Direktor der JVA Zeithain in Sachsen gefragt, wie eine Gesellschaft ohne Gefängnis aussehen könnte. Und woran diese konkrete Utopie scheitert.

Zum Einstieg, Herr Galli, ist das Gefäng­nis nicht völlig kontraproduktiv, weil es vielmehr eine »Universität für Verbre­cher« ist, wie es manchmal gesagt wird?

THOMAS GALLI: Das ist sehr zugespitzt formuliert, aber es ist Wahres dran. Die im Gefängnis etablierte Kultur, ist eben nicht die, in die der Staat integrieren will, son­dern eine Parallelkultur. Ich denke, dass es nicht unbedingt so ist, dass der eine dem anderen beibringt, wie man ein Auto am besten knackt. Das kommt sicher auch vor. Viel wichtiger sind jedoch Kultur und damit verbundene Wertvorstellungen, die im Gefängnis im Gruppengefüge aufgebaut und gefestigt werden.

Wer sitzt eigentlich im Gefängnis?

THOMAS GALLI: Im Bereich der kurzen Strafen kommen fast alle aus prekären Ver­hältnissen oder haben zumindest eine belastende Biografie. Im Bereich der hohen Haftstrafen ist es anders, aber auch kein Querschnitt der Bevölkerung. Es trifft in erster Linie diejenigen, die unterdurch­schnittlich gute Chancen im Leben hatten.

Wenn sie nicht in die Gesellschaft integriert werden, was macht Haft dann mit den Inhaftierten?

THOMAS GALLI: Also meine These wäre, dass 90 % der Häftlinge nicht in die Gesellschaft integriert werden. Wie ich gerne sage, manche schaffen es trotz Strafvollzug, aber nicht wegen dem Gefängnis. Die allermeisten, die ich erlebt habe, werden zynisch und abge­stumpft oder aber wütend und aggressiv – haben eindeutig den Plan weiter auf illegale Weise Geld zu verdienen. Und es gibt natürlich auch die, die verzweifelt sind. Die Selbstmord­rate ist deutlich überdurchschnittlich im Ver­gleich zu draußen.

Das Leben im Gefängnis ist vollkommen fremdbestimmt. Vom Aufstehen, bis zum Essen, die Arbeit, diese ganzen Dinge. Im Gefängnis wird man jeglicher Autonomie beraubt und damit auch jeder Selbstverant­wortung. Draußen braucht man die aber. Für mich liegt völlig auf der Hand, dass das Gefängnis nicht resozialisiert, sondern deso­zialisiert.

Sie waren ja in unterschiedlichen Justiz­vollzugsanstalten tätig. Ab wann war der Punkt erreicht, wo sie dieses System in Frage gestellt haben?

THOMAS GALLI: Es hat wirklich gedauert, mir selber einzugestehen: »Das ist eigentlich ein Schmarrn, was da passiert.« In einer Haft­anstalt, in der ich etwa sechs Jahre gearbeitet habe, da kamen immer wieder die Gleichen ins Gefängnis. Meistens keine Schwerkriminellen, viele aus dem Drogenmilieu. Die sind kurz raus, haben dann wieder irgendwas gemacht und kamen wieder rein. Das war allen klar. Ein Dauerkreislauf wo man sich irgendwann denkt: »Wer hat da was davon?« Und denjeni­gen, die noch den Willen hatten, dem Kreislauf zu entkommen, denen hat man mit dem Gefängnis viele Chancen kaputt gemacht. Eine Haftzeit bekommt man schwer raus aus dem Lebenslauf, naturgemäß hat man damit weni­ger Chancen am Arbeitsmarkt und in anderen Bereichen. Damit ist die Gefahr groß, letztlich wieder abzurutschen und straffällig zu wer­den. Was die Mehrheit der Inhaftierten angeht, vergrößert man damit also eher die Gefahr, dass sie wieder straffällig werden.

Arbeit von Häflingen wird zumindest in Österreich als sehr zentral für die Resozialisierung angepriesen. Wie sehen sie das?

THOMAS GALLI: Zu einem gewissen Grad stimmt das. Wobei auch der Nachweis zu führen wäre, dass Leute, die in Haft arbeiten, danach auch mehr Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben. Aber das wird nicht untersucht. Die meisten Inhaftierten sind ja tatsächlich heilfroh, dass es Arbeit gibt, und wollen arbeiten. Den Justizbehör­den geht es eher darum, dass in der Haft einigermaßen Ruhe herrscht und die Leute beschäftigt sind. Und so ist Arbeit in Haft eher ein Selbstzweck, denke ich. Wenn man hingegen wirklich wollte, dass es um Resozialisierung geht, dann müsste man sich viel weitergehende Gedanken machen und die Leute in die Rentenver­sicherung einbeziehen. So landen sie ja erst Recht in der Armut nach der Haft. Das kann doch nicht der Sinn von Resozialisierung sein.

In Deutschland hat sich vor einigen Jahren eine Gefangenenge­werkschaft gebildet. Mittlerweile gibt es so einen Versuch auch in Österreich. Was halten sie davon?

THOMAS GALLI: Diese Gefangenengewerkschaft finde ich einen sehr guten Ansatz, der aber natürlich einen extrem langen Atmen brauchen wird. Das Modell einer Gewerkschaft passt überhaupt nicht in das System des Strafvollzugs. Aber es ist sehr wichtig, sich zu verbünden und Ressourcen und Know-How zu bündeln, um da mehr Wirkungsmacht zu haben. Die schon angesprochene Einbe­ziehung in die Rentenversicherung, zum Beispiel, wird in Deutsch­land von vielen aus dem Bereich der Wissenschaft und Politik gefordert. Umso wichtiger ist es, dass es auch Verbände gibt, deren Stimme gehört wird, die das vorantreiben.

Passend zum Schwerpunkt in dieser Zeitung, ist eine Gesell­schaft ohne Gefängnis denkbar? Als sie noch die JVA Zeithain geleitetet haben, haben sie mal öffentlich gesagt, wenn es nach ihnen ginge, könnte jeder einzelne ihrer Häftlinge freigelassen werden.

THOMAS GALLI: Man muss es sich bewusst machen: Die Leute, die dort bei mir eingesperrt waren, wurden sowieso in zwei Jahren entlassen. Also zu sagen, »Wir wollen sicher sein vor denen«, ist eine falsche Rechnung. Wenn der nämlich nach zwei Jahren raus kommt und danach noch weniger Chancen hat als vorher, dann ist auf Dauer gesehen die Sicherheit nicht erhöht, sondern reduziert.

Aber es gibt sicherlich keine Patentlösung. Das erwarten Leute in Diskussionen jedoch oft. Das macht es auch so schwierig, in diesem Bereich zu argumentieren.

Oft kommt die Frage: »Was tun sie mit einem Anders Breivik?« In meiner Zeit in der JVA Straubing habe ich gelernt, dass es Insassen gibt, die nach meiner Meinung auf keinen Fall mehr in Freiheit kommen dürfen. Wir können nicht jede Gefährlichkeit abtherapie­ren, das müssen wir uns auch eingestehen. Es macht aus meiner Sicht keinen Sinn, einen Anders Breivik 40 Jahre lang zu therapie­ren. Aber wir könnten sagen, »Wir wollen von dir keine Gefahr mehr in Kauf nehmen, aber wir behandeln dich trotzdem men­schenwürdig«. Denn, das sind auch so die Erfahrungen, unter ande­rem aus den USA, wenn man Gefangene roh behandelt, foltert oder hinrichtet, dann führt das nur zu einer allgemeinen Verrohung in der Gesellschaft und zu noch mehr Gewalt. Insofern brauchen wir weiterhin eine Art von Gefängnis für dieses Klientel. Die Grundlage für die Haft wäre hier aber eine ganz andere. Weggesperrt würde nicht zur Strafe, wegen Schuld oder Vergeltung.

Das Gefängnis hat ja aber auch eine abschreckende Wirkung?

THOMAS GALLI: Ja, ich denke, die abschreckende Wirkung ist nicht von der Hand zu weisen. Bei manchen wird mögli­cherweise gerade eine drohende Haftstrafe abschreckend sein. Bei anderen wären das aber vielleicht auch ganz andere Sachen. Aber auch hier darf man nicht zuviel davon erwarten. Aus der Forschung weiß man, dass gerade bei den schlimmen Straftaten – Gewalttaten, Sexualdelikten – der Abschre­ckungsgedanke kaum eine Rolle spielt. Auch bei eher langfristig geplanten Taten, irgendwelchen Finanzbetrügereien oder so, gehen die Leute ja davon aus, dass sie nicht erwischt werden.

Was müsste sich in unserer Gesellschaft ändern, damit diese Art des Strafens nicht mehr sein muss?

THOMAS GALLI: Jede Straftat hat indivi­duelle Ursachen – ich will den einzelnen nicht aus seiner Verantwortung nehmen. Jede Straftat hat aber auch soziale Anteile. Diese bestehen im Hier und Jetzt. Auch in unserer Wohlstandsgesellschaft gibt es gewaltige Ungerechtigkeiten. Und die erzeugen hilflose Wut und auch Gewalt und Normbrüche. Das ist natürlich ein Ideal, aber je gerechter eine Gesellschaft ist, desto geringer ist die Straffälligkeit. Und natürlich haben Straftaten auch soziale Ursachen, im Hinblick auf die Biografie der Straffälligen etwa. Es gibt natürlich sehr viele, die aus schwierigsten Umständen kommen und nicht straffällig werden. Umgekehrt ist es aber so, dass die meisten, die straffällig werden aus schwierigen Ver­hältnissen kommen.

Thomas Galli ist mittlerweile als Rechtsanwalt tätig. Sein letztes Buch widmet sich Einzelschicksa­len von Straftätern und ist unter dem Titel »Die Gefährlichkeit des Täters« 2017 erschienen.

Gelesen 6113 mal Letzte Änderung am Mittwoch, 19 Juni 2019 13:03
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