Am 3. Mai 2019 wäre der amerikanische Volkssänger und stets höfliche Agitator Pete Seeger hundert Jahre alt geworden. Bis zu seinem Tod 2014 prägte er das Image des angloamerikanischen Folksongs als Ausdruck des leisen, aber schonungslosen Aufstands gegen die Hochmütigen und Mächtigen wahrscheinlich mehr als jede_r andere.
VON JOSEPH GRIM FEINBERG
Pete Seeger gehörte zu jenen Menschen, die glauben, dass Amerika keine Nation, sondern eine Mission ist. Sein Amerika war nicht das Land der Amerikaner_innen, sondern das Land aller Menschen; die Heimat all jener, die heimatlos sind. Zur Amerikaner_in wurden die Menschen nicht durch ihren Geburtsort, sondern weil sie es wagten von einer Neuen Welt zu träumen, die von jedem und jeder entdeckt werden konnte. Das war das Volk, dessen Lieder Pete sang. Und wenn es Folklore gibt, die ich für meine eigene halten kann, dann jene, die Pete Seeger und die Menschen in seiner Umgebung gesammelt und weitergegeben haben. Zum Beispiel an Leute wie meinen Vater.
Auch er verfiel in Greenwich Village in den 1960er Jahren der Begeisterung für das Folksong-Revival. Auf einem Banjo lernte er die Lieder Seegers zu spielen und bekam, nach einem Konzert, jenes gar von Pete signiert. (Später, auf einem Flug nach Berkeley, verschwand das Instrument. Wir haben nie erfahren, ob daran Inkompetenz oder ein_e, nach Folkmusik verrückte_r, Flug hafenangestellte_r Schuld trug.) Als mein Vater siebzehn war, schrieb er ein Lied über Pete und schickte ihm den Text. Seeger schickte ihm eine maschinengeschriebene Antwort, in der er sich für den Brief bedankte, aber hinzufügte: »Bitte, bitte, lauf nicht rum und sing Lieder über mich. Ich bekomme sowieso schon zu viel Aufmerksamkeit. Nach meinem Tod, kann sich jede_r Songs über mich ausdenken und ich werde mich nicht beschweren können.«
»Jetzt kannst du endlich dieses Lied singen«, sagten wir zu meinem Vater, als er uns ein paar Tage nach Petes Tod diesen Brief zeigte. Aber das Lied war längst den Weg des signierten Banjos gegangen – Pete kann also in Frieden ruhen. Außer freilich, dass, in gewisser Weise, ein kleiner Teil jedes amerikanischen Volksliedes ein Lied über ihn ist.
Pete Seeger betrachtete sich als ein Glied einer Kette, die er als »folk process« bezeichnete. Normalerweise sang er Lieder, die andere oder niemand geschrieben hatten. Hin und wieder hat er sich ein eigenes Lied ausgedacht, immer aber seinen eigenen Autorenbeitrag heruntergespielt und alles dafür getan, seine Lieder aus den Händen zu geben und in den Besitz der Menschen zu bringen. Oft nahm er vorhandene Texte oder Melodien als Material und überarbeitete sie für neue Anlässe. Seeger war froh, wenn jemand anderes eines seiner Lieder aufnahm und es erneut überarbeitete. »Where Have All the Flowers Gone?« basiert auf einem Kosakenlied, das auch die Einleitung zu Michail Scholochows Buch »Der stille Don« lieferte. Da Pete die Originalmelodie nicht finden konnte, erfand er eine neue (die er einigen Quellen zufolge aus einem anderen russischen oder ukrainischen Volkslied entlehnt hatte). Kurz nachdem er anfing, das Lied öffentlich zu singen, fügte eine_r der Zuhörer_innen zwei neue Verse hinzu, die Pete begeistert begrüßte – er sang es danach nie mehr ohne jene. Später wurde das Lied mit all seinen Versen auch wieder ins Russische übersetzt.
Pete Seeger brachte Menschen zusammen, regte jene im Verbund zur Handlung an und stellte so Folksongs in den Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit. Wenn Sie eine_n Durchschnittsamerikaner_in fragen, was Volkslieder sind, erhalten Sie wahrscheinlich eine Beschreibung dessen, was Pete gesungen hat: Lieder der Machtlosen gegen die Macht, der Armen gegen die Reichen, Lieder, die momentan noch den Ausgeschlossenen, eines Tages jedoch allen gehören. Lieder von Bauern und Bäuerinnen und Vagabund_innen, von Handwerker_innen und Bettler_innen, von Prediger_innen und Sünder_innen, von Cowboys und -girls, aber auch von Indianer_innen. Ein Lied von jedem und jeder, aber vor allem von allen, die nichts darstellen.
Nicht jeder aber weiß Folksongs dieser besonderen Ausprägung zu schätzen. Im Vergleich zu Volksliedern anderer Länder haben sich jene Amerikas als schlechtes Material für nationalkonservative Politik erwiesen. Der_die amerikanische Patriot_in weiß nicht, was er_sie mit Folksongs anfangen soll, weil der_die Patriot_in davon überzeugt ist, dass Amerika eine Nation ist und diese Lieder eben keine Nation besingen. Es sind vielmehr Lieder, die aus den Nationen der Welt geflohen sind, um sich einer Mission anzuschließen.
Ich bin, generell gesagt, dankbar. In einem Land, in dem die vorherrschende Kultur die Existenz der Beherrschten vergaß, wurden Volkslieder zu einem Symbol für den Kampf gegen jede Herrschaft. Weil ich mit amerikanischen Volksliedern aufgewachsen bin, wusste ich immer, dass »mein« Volk ein proletarisches Volk ist. Die ersten Lieder, an die ich mich aus meiner Kindheit erinnere, sind Lieder von bewussten Gewerkschaftsorganisator_innen und verzweifelten Hobos, von hoffnungsvollen Sklav_innen und auferstandenen Rebell_ innen. Es gab Lieder von Handwerker_ innen, die vom Fortschritt ruiniert und Einwanderer_innen, die in ein lebloses Leben verbannt wurden; von ehemaligen Bäuer_ innen, die von den Banken von ihrem Land vertrieben wurden.
Ich wurde vom Brummen der Stahl schienen im »The Hobo’s Lullaby« in den Schlaf gewiegt. Ich wunderte mich über das Heldentum des Eisenbahnbauers John Henry, der mit einem Dampfhammer raste, gewann und in erschöpftem Ruhm verstarb. Ich hörte die gespenstischen Warnungen von Eisenarbeiter_innen, die 1913 zermalmt wurden, als ein Handlanger vom Boss bei einer Weihnachtsfeier der Gewerkschaft »Feuer« rief. Ich hörte die Schreie der Waljäger_innen, die vor Grönlands Küsten ertranken. Ich hörte die Beschwerden von Freiwilligen in Spanien, die auf die Briefe ihrer Geliebten warteten: »Du hast bereits meine Adresse: Gandeza-Front, erste Schusslinie«. Ich hörte das Stöhnen von Büffelhäuter_innen, die die Knochen ihres betrügerischen Chefs in der ewigen Wüste proletarischen Zorns bleichen ließen. Als ihre Stimmen endlich in den Hymnen für eine neue Welt zusammenkamen, wusste ich, dass ihre Hymnen meine waren – das waren die einzigen Nationalhymnen, die ich jemals mit der Hand auf meinem Herzen singen konnte. Aber das waren keine wirklichen Hymnen von Amerika. Es waren Hymnen einer Nation, die es noch nicht gibt, Hymnen eines Landes, das von Menschen gegründet werden wird, die aus allen bisher existierenden Ländern vertrieben wurden. Und doch wusste ich, dass ich genau in dieses Land hineingeboren worden war, denn es existierte – wenn auch nur in Liedern.
Das ist der Grund, warum es weh tut, wenn ich an diese Neue Welt denke, der es in letzter Zeit oder eigentlich seit ihrem Anbeginn so schlecht ergangen ist. Am Ende ließ ich die alte Neue Welt hinter mir, als mir klar wurde, dass sie so lange nur in Liedern existiert hatte – in Liedern, die immer weniger gesungen wurden. Manchmal sang Pete Seeger zu süßlich für meinen Geschmack. Er glaubte an seine Vision und ermutigte die Öffentlichkeit mit einem so optimistischen und unbesiegbaren Lächeln, dass ich manchmal das Bedürfnis hatte, mich abzuwenden. Aber ich hörte nie auf zuzuhören. Und er hörte nie auf zu singen, sei es durch seine Stimme oder durch die anderer. Ich bezweifle, dass er es jemals wird.
Joseph Grim Feinberg ist Kulturanthropologe und Sozialtheoretiker, er forscht in Bratislava und Prag. Von ihm erschienen u.a. Texte über das Konzept der Zivilgesellschaft, die Politik der Kultur und die Zukunft der Linken.
Aus dem Englischen von HvD