Von ELKE DANGELEIT
Die Hohe Wahlkommission (YSK) hat nach der Kommunalwahl am 31. März die schwierige Aufgabe, die Niederlage der AKP in sechs wichtigen Großstädten zugunsten der kemalistischen CHP und die Rückeroberung vieler kurdischer Kommunen im Südosten der Türkei durch die linke HDP irgendwie als Erfolg hinzubiegen. Das braucht Phantasie und Fingerspitzengefühl, denn einerseits darf die von Erdogan persönlich eingesetzte YSK den Chef nicht verärgern, andererseits darf sie auch nicht zu offensichtlich schummeln.
Schon kurz vor der Wahl heizte der türkische Innenminister Soylu die Stimmung mit dem Satz weiter an: »Es gibt keine politische Partei namens HDP. Es gibt die PKK. Diese Abgeordneten sind keine Parlamentsabgeordneten. Es sind die Abgeordneten der PKK, des Terrors.« Der Außenminister Çavusoglu sagte, alle Kandidaten der HDP seien »zu hundert Prozent PKKler«. Der Vorsitzende Devlet Bahçeli der ultranationalistischen Partei MHP meinte gar, alle, die ihre Stimme nicht dem AKP/MHP-Bündnis geben würden, unterstützen Terrororganisationen – womit er vor allem die Kurdische Arbeiterpartei meinte. Nach dieser Logik haben sich am 31. März bei den Kommunalwahlen Millionen Menschen der Terrorunterstützung schuldig gemacht. Erdogan persönlich drohte im Vorfeld der Wahlen, dass er denjenigen Kommunen, die nicht von der AKP regiert werden, den Geldhahn zudrehen will: »Selbst wenn sie Bürgermeisterposten gewinnen, sind sie nicht in der Lage, das Personal zu bezahlen. Wundert euch nicht, wenn die Banken die Einkommen der Kommunen konfiszieren.«1
Wahlmanipulationen
Im Vorfeld der Kommunalwahl gab es zahlreiche Hinweise auf Wahlmanipulationen: In Siirt trafen Dutzende Busse mit »Geisterwählern« ein, die von gepanzerten Fahrzeugen begleitet wurden. Im Vorfeld der Kommunalwahlen hatte sich herausgestellt, dass 6.488 Wahlberechtigte nicht im Wahlregister aufgeführt sind. Stattdessen fanden sich in dem Verzeichnis tausende Wahlberechtigte, die in öffentlichen Gebäuden oder unbewohnten Baustellen gemeldet sind. »Geisterwähler«, die in Polizeifahrzeugen in die Städte gebracht wurden, wurden auch aus Mersin, Adana, Antalya und Konya gemeldet.
Siege der Opposition
Trotz massiver Wahlbehinderung gewann die HDP in den überwiegend kurdischen Gebieten mit ihren BürgermeisterkandidatInnen. Verschiedentlich näherte sie sich gar einer Zwei-Drittel-Mehrheit wie in Diyarbakir mit 63,47 und Batmann mit 65,72 Prozent.
Die andere Oppositionspartei, CHP, löst in der Hauptstadt Ankara nach 20 Jahren die AKP ab. Der CHP-Kandidat, Ekrem İmamoğlu, konnte sich in Istanbul gegen den AKP Kandidaten Binali Yildirim durchsetzen. In allen Küstenstädten in der West-Türkei stellt die CHP nun den Bürgermeister. Die HDP trat zugunsten der CHP nicht in diesen Großstädten an.
Denkzettel für die AKP: Verlust von Istanbul
Der Verlust von wichtigen Großstädten in der Westtürkei ist ein heftiger Denkzettel für Erdogan und beweist, dass mindestens die Hälfte der Bevölkerung ganz und gar nicht mit Erdogans autokratischer, nationalistisch-islamistischer Politik einverstanden ist. Trotzdem ist die AKP landesweit als stärkste Partei aus den Wahlen hervorgegangen.
Erdogan, der nicht nur Präsident und Regierungschef, sondern auch Parteichef ist, feierte zwar schon den Sieg seiner Partei, musste aber auch einräumen, dass sich die AKP nicht überall durchsetzen konnte. »Wir haben einige Städte verloren. Das gehört zur Demokratie dazu.« Dennoch erklärte er die Regierungspartei AKP zum Gewinner der Kommunalwahl.
Allerdings will er das Wahlergebnis in Istanbul nicht anerkennen, denn im Wahlkampf versuchte er – in Anlehnung an seinen Werdegang als ehemaliger Istanbuler Bürgermeister – mit dem Slogan »Wer in Istanbul die Wahl gewinnt, regiert die Türkei«,2 auf Stimmenfang zu gehen. Eine Niederlage der AKP in Istanbul könnte demnach von der Bevölkerung als der Anfang vom Fall Erdogans interpretiert werden. Also beantragte er die Neuauszählung der Stimmen, die aber den knappen Sieg von İmamoğlu bestätigte. Nun soll in Istanbul nach Erdogans Willen neu gewählt werden.3 Denn seine Familie hat ganz eigene Interessen in Istanbul, die gesichert werden wollen: Seit 25 Jahren steht die Kommunalverwaltung von Istanbul mit einem Jahresbudget von beinahe fünf Milliarden Euro unter Erdogans Obhut. Davon flossen im Jahr 2018 fast 135 Millionen Euro Spenden an islamistische Stiftungen. Am meisten floss an vier Stiftungen, denen Erdogans Sohn Bilal vorsitzt, gefolgt von einer von Erdogans Schwiegersohn Selçuk Bayraktar geleiteten Stiftung. Aber auch Unternehmer, denen Erdogan zu Reichtum verhalf, bangen nun um ihre Finanzspritzen aus der Metropole: Fast alle Dienstleistungen, wie der Betrieb der Metro, Infrastrukturmaßnahmen, der Autoverleih und die Müllabfuhr, wurden per Ausschreibung den Inhabern der Zeitungen Sabah und Yeni Safak zugeschanzt, die Erdogan als Sprachrohr dienen.4
Keine Anerkennung der HDP-Bürgermeister in Kurdengebieten
Täglich gibt es neue Meldungen, wie die AKP-Regierung versucht, die Ernennung der gewählten HDP-Bürgermeister zu verhindern. Die Wahlkommission erkannte z.B. den Wahlsieg von sechs HDP-Bürgermeistern in den kurdischen Gebieten nicht an, da sie zuvor per Dekret aus dem Staatsdienst entlassen wurden, deshalb für das Amt nicht geeignet und von daher durch die Zweitplatzierten – fast alles AKP-Kandidaten – zu ersetzen seien.5
Insgesamt verweigert die Hohe Wahlkommission (YSK) 48 gewählten kurdischen Bürgermeistern der HDP, darunter auch die bekannten Bürgermeister Ahmet Türk und Figen Altindag der Großstadt Mardin, das Mandat und die Übergabe der Ernennungsurkunden.
2 https://www.dw.com/de/istanbul-eine-stadt-zwei-bürgermeister/a-48227566
Elke Dangeleit, Jhg. 1960, Ethnologin und Journalistin, ist Mitglied im Kommunalparlament des Berliner Bezirks Friedrichshain-Kreuzberg für die Partei DIE LINKE und engagiert sich vor allem im migrationspolitischen Bereich mit Schwerpunkt Naher und Mittlerer Osten.