Mit einem Ergebnis von fast 12,6 % bei den Bundestagswahlen am 24. September schrieb die »Alternative für Deutschland« Geschichte: Zum ersten Mal sitzt in der Bundesrepublik Deutschland eine nationale, rechtspopulistische bis rechtsextreme Partei im Bundestag und wurde auf Anhieb gleich drittstärkste Kraft. Die großen Parteien CDU/CSU (33,0 %) und SPD (20,5 %) erlitten empfindliche bzw. historische Niederlagen, die (neo-)liberale FDP (10,7 %) zog nach ihrem Ausscheiden 2013 wieder in den Bundestag ein, und bei den Grünen (8,9 %) und der Linken (9,2 %) gab es nur geringe Zugewinne. Etwa ein Viertel der Bevölkerung ging erst gar nicht zur Wahl. Soweit das amtliche vorläufige Endergebnis. Jetzt beginnt für Angela Merkel der schwierige Regierungspoker. Die SPD hat noch am Abend des 24. September ihren Gang in die Opposition verkündet und für Merkel bleibt nur die Wahl zwischen Minderheitsregierung, Ampelkoalition mit Grünen und FDP und/oder baldigen Neuwahlen.
Für die EU, die Merkel nun ganz genau auf die Finger schauen wird, ist das kein ideales Ergebnis. Dennoch wird es wohl in Europa und in Deutschland im Prinzip möglich sein, den bisherigen politischen Kurs noch eine Zeit lang weiter zu fahren. Wichtiger für Europa, nicht nur für die EU, ist jedoch: Der Damm ist gebrochen. Deutschland – bisher zumindest auf Bundesebene gerne als leuchtendes Beispiel für die Immunität gegenüber dem Rechtspopulismus immer wieder gerne hervorgeholt – ist mit dem gestrigen Ergebnis »endlich« auch in der politischen Realität des Jahres 2017 angekommen. Und das kann für die politische Kultur in Deutschland und in Europa immense Folgen haben.
Der Druck von rechts
Angesichts des Brexit, des Trump-Siegs, der befürchteten Wahlerfolge der Rechtspopulisten, z. B. bei der Bundespräsidentenwahl in Österreich sowie bei den Wahlen in den Niederlanden und in Frankreich, begleitete uns die Drohkulisse eines gestärkten chauvinistischen Nationalismus schon seit dem Vorjahr. Doch zumindest in Europa blieben die großen Erfolge der Rechtsextremen aus. Van der Bellen statt Hofer, Macron statt LePen und ein enttäuschendes Ergebnis für Geert Wilders in den Niederlanden zeigten: Die Rechtspopulisten haben Aufwind, sie sind aber nicht fähig, eine Mehrheit der Wählerinnen und Wähler für sich zu gewinnen. Zu stark ist noch das Bollwerk der bürgerlichen Gesellschaft, zu groß ist noch die Angst vor den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Konsequenzen einer tatsächlich rechtsextremen Politik – zumindest in den europäischen »Vorzeigeländern«. Es wäre also verfrüht, sich gerade in Deutschland davor zu fürchten, dass die AfD bald die anderen Großparteien übertrumpft.
Angetrieben von der Angst des Stimmen- und Machtverlusts sind es besonders die Konservativen aber auch die SozialdemokratInnen, die für einen Schwenk nach rechts zur Stimmenmaximierung zu begeistern sind.
Den politischen Ton wird sie dennoch mitbestimmen können, und das ist das eigentliche Problem. Schon vor den Wahlen und erst recht am Wahlabend wurden erste Stimmen aus CDU/CSU laut: »Man hätte mehr auf das Einwanderungsthema setzen müssen!« CSU-Chef Horst Seehofer forderte am Tag nach der Wahl mit Nachdruck ein, nun einen Mitte-Rechts-Kurs zu fahren. Angetrieben von der Angst des Stimmen- und Machtverlusts sind es besonders die Konservativen aber auch die SozialdemokratInnen, die für einen Schwenk nach rechts zur Stimmenmaximierung zu begeistern sind. Grundsätzlich andere Politik um Wohnungsnot, die Folgen der Aufstocker- und 1-Euro-Job-Politik trotz Mindestlohn, Probleme im Gesundheits-, Pflege- und Kinderbetreuungssystem und mangelnde Infrastruktur (besonders im Osten) zu bekämpfen – alles kein Thema. Es ist einfacher, beim Hass gegen MigrantInnen und Geflüchtete, bei den Warnung vor dem Terror an jeder Ecke und bei der fatalen, falschen und unredlichen Verknüpfung dieser beiden »Themen« mitzumachen. Und Massenmedien, wie die BILD-Zeitung, spielen brav mit, indem sie diesen Fokus mittragen und verstärken, wodurch nicht nur Sorgen der von HARTZ-IV betroffene WählerInnenschicht, auch nicht nur die ideologischen Wahnvorstellungen der nationalistischen Rechten, sondern auch die Abstiegsängste des »bürgerlichen Mittelstands« angefeuert werden.
Das beste Beispiel dafür liefert die österreichische Innenpolitik der letzten Jahre, die Form und der Fokus des gegenwärtigen Wahlkampfs (Asyl, Migration, »Sicherheit«) – und dafür sind nicht nur H.-C. Strache und Sebastian Kurz verantwortlich. Das Beispiel Kurz ist dennoch besonders relevant: Der Mythos Merkel ist angekratzt und ein innerparteilicher Umbruch à la Kurz, der die Parolen der Rechtspopulisten mit einem offen wirtschaftsliberalen und anti-sozialen Kurs für die Eliten (irgendwo her muss das Geld ja kommen …) und einer massenwirksamen PR-Kampagne verbindet, wäre auch in Deutschland denkbar, wenn die Wahlerfolge weiterhin ausbleiben. Dass die SPD in der Opposition dann zu ihren längst vergessenen alten Werten zurückfinden wird, ist ebenfalls zu bezweifeln. Wahrscheinlich wird es auch bei den SozialdemokratInnen in Deutschland bald heißen: »Man muss die Sorgen der Menschen ernst nehmen.« Und so könnte das, was in Österreich vorgelebt wird, auch in Deutschland bald akut werden und auf Europa rückkoppeln. Denn wofür sich die Deutschen in Sachen politischer Kultur in den nächsten Monaten entscheiden, wird auch den Kurs in Europa und in Österreich beeinflussen – besonders dann, wenn in Deutschland Zugeständnisse an die Parolen der AfD gemacht werden sollten und die FPÖ in der nächsten österreichischen Regierung sitzt.
Treppenwitz
Dass es selbstverständlich die von ihnen allen vertretene, neoliberale Wirtschafts- und Sozialpolitik ist, ob in der Variante nach Schröder, nach Merkel oder mit Turbo bei Macron und Kurz, welche nun auch die Deutschen für die rechtspopulistischen und nationalistischen Sprüche empfänglich machte, ist ein Treppenwitz der Geschichte. Es ist der Anschein, dass es zum Status quo der »marktkonformen Demokratie« keine Alternative gibt und die daraus gelernte Anti-Solidarität, die es so einfach macht, den Hass anzufachen und den chauvinistischen Nationalismus, ja sogar den Rassismus, wieder salonfähig zu kriegen. Gegenstimmen und progressive, alternative Erzählungen finden nur wenig Platz oder werden nicht als solche wahrgenommen, denn nicht nur die Politik, auch Medien und Kultur sind der Hegemonie des Neoliberalismus verpflichtet. Ganz im Gegenteil – während die Großparteien hoch verloren haben und die AfD in den Bundestag einzog, wurde auch gleichzeitig wieder die FDP mit einem Plus von sechs Prozent wieder ins Parlament gewählt, während die Linke nur leicht dazugewann.
Der kompetitive Wirtschaftsstandort, nicht das gute Leben für alle, ist Dreh- und Angelpunkt der Politik. Bleibt man diesem Credo treu, dann brechen eben Dämme.
Es bleibt das Fazit, das schon längst kein neues mehr ist. »There is no alternative!« macht die Rechtsextremen stärker, drängt auch opportunistische Konservative und SozialdemokratInnen nach rechts und verhindert die Diskussion darüber, wie die vielen, tatsächlichen Probleme des 21. Jahrhunderts auch tatsächlich gelöst werden könnten. Der kompetitive Wirtschaftsstandort, nicht das gute Leben für alle, ist Dreh- und Angelpunkt der Politik. Bleibt man diesem Credo treu, dann brechen eben Dämme. Umso wichtiger ist es, dass die Linke in Europa ihren Prinzipien treu bleibt und dagegenhält. Sie wird sich jedoch abermals überlegen müssen, wie sie ihrerseits den Damm gegen soziale, fortschrittliche Politik abseits des Neoliberalismus, der durch das System aufgebaut wurde und noch immer standhaft bleibt, durchbrechen kann, um überhaupt gehört zu werden.