2017 – und nichts verstanden Michael Gruberbauer Orig. Foto: Gideon Wright CC BY 2.0 / Flickr
31 Dezember

2017 – und nichts verstanden

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Wir habe es fast überstanden. Der letzte Tag des Jahres 2016 ist endlich da, und allerorts lässt man die vergangenen 365 Tage des Schaltjahrs Revue passieren. Im Boulevard und auf den sozialen Spielwiesen im Internet geschieht das auf die üblich plumpe und – wie sagt man neuerdings – »post-faktische« Weise. In den sogenannten liberalen Qualitätsmedien nimmt man es mit der Wahrheit auch nicht so ernst. Das liegt aber weniger an den dort referenzierten Fakten und mehr an der dort präsentierten Interpretation.

Die Story des Jahres

Die Geschichte lautet in etwa so: Der »Demagoge Trump«, die »Brexit-Populisten«, und der jetzt viel lamentierte Rechtsruck in vielen Staaten Europas sowie natürlich Erdogan, Putin und die Terroristen waren im Stande, dem erfolgreichen Projekt der Globalisierung zum ersten Mal seit 1989 einen gigantischen Dämpfer zu verpassen. Die Ordnung, die der ganzen Welt Wohlstand und Menschenrechte bringen soll, ist gefährdet. Und schuld sind die Wählerinnen und Wähler – wenn auch nur im Subtext, denn offiziell sind es ja die »post-faktischen« Medien – , weil sie denen auf den Leim gehen, die ihnen morbide Fantasiegeschichten vom Untergang und nationalistische Placebos als Gegenmittel verkaufen. Motiviert ist die Akzeptanz gegenüber den Demagogen und Populisten durch die Weigerung, sich zu bilden und als Gesellschaft die Reformen und Bedingungen der Globalisierung immer und immer wieder neu zu akzeptieren. Und das alles war weniger Folge eines Prozesses, sondern ein momentaner Bruch als Folge einer aufgeheizten Stimmung, eine politische Naturkatastrophe.

Das alles ist nicht gerade unwahr. Aber es ist eine einseitige, oberflächliche Betrachtung. Als würde man sich bei der Analyse von Erdbeben nur mit der Form der Schockwellen und nicht mit den zugrunde liegenden, langwierigen geologischen Ursachen befassen, weigert sich die »Mitte«, sich mit den Axiomen der eigenen Ideologien kritisch auseinander zu setzen, die dieses Jahr für sie zu einem »Annus horribilis« gemacht hat. Um bei der Metapher des Erdbebens zu verbleiben: Die Rechtspopulisten verlangen als Lösung Menschenopfer um die Götter zu besänftigen. Das wird zurecht als irrational kritisiert. Die Liberalen jedoch interessieren sich nur dafür, die Wolkenkratzer künftig erdbebensicherer zu bauen. Beide leugnen sie die Existenz der tektonischer Platten.

Geschichtenerzähler

Der liberale Mainstream hat die Botschaft des Jahres 2016 nicht verstanden. Die Artikel und Kommentare aus den letzten Tagen zeigen, dass es ihm statt um eine Erklärung des Geschehenen nur um eine Geschichte geht, die man sich erzählt, um sich vom schlechten Gewissen rein zu waschen. Da wird zum Beispiel in der Wiener Zeitung des 30. Dezember ein gut gemachter Rundumschlag gegen die Entwicklungen des Jahres 2016 präsentiert: 2016 habe »die Welt auf den Kopf gestellt.« Auf der Seite davor tritt man jedoch weiter auf alten Pfaden, fordert zum Beispiel Christian Ortner in seinem Kommentar »Lasst uns die Ideen stehlen!« ähnlich wie die Schweiz Milliarden in ein Institut für digitale Forschung zu stecken, um ein österreichisches Silicon Valley aufzubauen. Das Argument? So etwas sei notwendig, um den Wohlstand im Land zu erhalten, denn man befinde sich letzlich in einem »Krieg[!] um die besten Talente der Welt«. Und er meint, »eine geballte Ladung an Grundlagenforschung [würde] neue, erfolgreiche Konzerne entstehen lassen«. Als würde es an Kriegen und erfolgreichen Konzernen mangeln und der Monopolkapitalismus eine solche Art der Konkurrenz im gesättigten Markt überhaupt noch zulassen.

Im Standard gibt es zurzeit ebenfalls eine großes Angebot an Jahresend-Texten gegen das Jahr 2016 und den (Rechts-)Populismus. Der zahnlose Kommentar von Chefredakteurin Alexandra Föderl-Schmid vermag aber auch nur Name-Dropping zu betreiben und als Lösung des Problems Nebulöses zu verlangen: »Das Feuer müsste gelöscht, den Zündlern und Angstmachern entgegengetreten werden. Damit nicht ein Flächenbrand daraus wird.« Zu den für alles verantwortlich gemachten Fake-News fällt Hans Rauscher in seiner Kolumne vom selben Tag auch nur ein, dass »die seriösen Medien, die über entsprechende Ressourcen zur Faktenprüfung verfügen, sich sehr viel intensiver darum kümmern [müssen], die Fake-Pseudo-Konkurrenz auffliegen zu lassen.« Das wohlgemerkt wird von einem Redakteur der Zeitung gefordert, die seit Monaten in einer Artikelserie versucht, die steigenden Vermögen der Reichen und die sinkenden Einkommen für die untere Mittelschicht in Österreich statistisch wegzudiskutieren. Die Fakten der einen sind eben die Fake-News der anderen. Die ins gleiche Horn stoßenden Meinungen aus der Presse und anderen Zeitungen seien hier der Eigenrecherche unserer LeserInnen überlassen.

Die »Sorgen der Menschen«

Der liberale Mainstream hat die Botschaft des Jahres 2016 nicht verstanden. Er kümmert sich nicht um die Probleme, die den vielzitierten »Sorgen der Menschen« eigentlich zugrunde liegen und ignoriert trotz allem Gezeter um Fake-News die glasklaren Fakten der androhenden Katastrophen: der Klimawandel mit seinen Rekordminima im arktischen Eis und Rekordmaxima der arktischen Temperaturen als Vorboten einer viel rascher als geplant kommenden, komplett veränderten Welt; die Untauglichkeit des kapitalistischen Wirtschaftssystems, mit zunehmender Automatisierung noch so etwas wie einen Sozialstaat zu finanzieren; die Psychopathie desselben Systems, trotz unglaublicher und steigender Produktivität auf einmal davor zu warnen, dass der Wohlstand nicht gehalten werden könne und alle kürzer treten müssten, die sich nicht zu den »LeistungsträgerInnen« zählen; der Wahnsinn der Zentralbanken, Abermilliarden in den Finanzmarkt zu pumpen, um das Kartenhaus nicht zusammenstürzen zu lassen und Banken zu retten; die Atomisierung der Gesellschaft, die den Menschen die Konkurrenz als Lebensprinzip am liebsten schon in der Wiege einimpfe möchte und das solidarische Rüstzeug der Bürgerinnen und Bürger verkümmern lässt; die eigenartige, parteiische Interpretation der imperialistischen Eroberungszüge und der Stellvertreterkriege als Schachspiel zwischen Gut und Böse, bei denen Tausende Menschen als geopolitische Bauernopfer ihr Leben lassen mussten und müssen und deren Früchte des gewalttätigen Extremismus auch in Europa geerntet werden.

Was die Mitte auch nicht kann oder nicht will, ist, außerhalb ihrer Ideologie nach Erklärungsmöglichkeiten für die zerstörerischen Prozesse zu suchen. Diejenigen, die versuchen, bei der Erklärung zu helfen, die vor vielen dieser Problemen seit Jahren gewarnt haben und Lösungsmöglichkeiten anbieten, werden denunziert. Die Linke und die ökologische Bewegung werden mit den rechten Nationalisten in denselben »Populismus«-Topf geworfen, wie nicht zuletzt am Beispiel von Unidos Podemos oder Syriza klar geworden ist. Laut der Erzählung hatte die Linke ihre Chance und sie mit den autoritären, realsozialistischen Systemen des 20. Jahrhunderts vertan und damit verwirkt, in Zukunft überhaupt ernstgenommen zu werden. Ökologie hat ohnehin in einem neoliberalen System keinen Platz und wird höchstens dann als Feigenblatt hervorgeholt und hofiert, wenn es gilt, die Perspektiven des Kapitalismus etwas grüner und nachhaltiger darzustellen, um die Menschen angesichts der klar sichtbaren Vernichtung der Ökosysteme zu beruhigen.

Nichts verstanden, nichts gelernt

Der liberale Mainstream hat die Botschaft des Jahres 2016 nicht verstanden. Was er aber versteht, ist, nun trotzig auf die Explosion zu reagieren, die das köchelnde Experiment der Politik der letzten 30 Jahre in der Zeit seit 2008 und nun besonders im Jahr 2016 hervorgebracht hat. Die Profitmaxime und allumfassende Konkurrenz wird aber weiterhin stur verfolgt, der Ideologie wird weiterhin gehorcht und Arbeitsflexibilisierung und Trockenlegung des Sozialstaats (z. B. durch Kürzung der Mindessicherung oder Senkung der »Lohnnebenkosten«) wird auch im nächsten Jahr ein zentrales Thema der MeinungsmacherInnen sein. Wachstum um jeden Preis ist alternativlos, ob auf den Schultern der arbeitenden und arbeitslosen, der jungen und alten Menschen sowie der Frauen in Europa und auf der ganzen Welt. Oder auf Kosten der Umwelt und der zukünftigen Generationen. Wer ein solches Programm auch im Jahr 2017 weiterhin unterstützt, braucht sich über viele weitere »Anni horribili« nicht zu wundern und hat aus 2016 nichts, aber auch gar nichts gelernt.

In diesem Sinne – frohes neues Jahr!

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