03 Dezember

FRIEDRICH ENGELS 2: Ist dialektisches Denken veraltet?

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200 Jahre nach Engels Geburtstag kann gefragt werden, ob und wieweit seine Überlegungen zur Dialektik der Natur auch heute noch brauchbar sind. Dieser Beitrag soll zeigen, dass dialektisches Denken für wissenschaftliche Neuerungen durchaus hilfreich sein kann.

VON PETER FLEISSNER

Engels hat sich dabei viel vorgenom­men: Er wollte das gesamte Gebiet der Wissenschaften, die Natur-, die Gesell­schaftswissenschaften und die Philosophie auf ihre darin verborgenen Gesetzmäßig­keiten durchforsten. Das Schlüsselwort dabei ist die Dialektik, die er im Gegensatz zur Metaphysik als Wissenschaft von den Zusammenhängen entwickelte. »Es ist also die Geschichte der Natur wie der menschli­chen Gesellschaft, aus der die Gesetze der Dialektik abstrahiert werden. Sie sind eben nichts andres als die allgemeinsten Gesetze dieser beiden Phasen der geschichtlichen Entwicklung sowie des Denkens selbst. Und zwar reduzieren sie sich der Hauptsache nach auf drei: das Gesetz des Umschlagens von Quantität in Qualität und umgekehrt; das Gesetz von der Durchdringung der Gegensätze; das Gesetz von der Negation der Negation. Alle drei sind von Hegel in seiner idealistischen Weise als bloße Denkgesetze entwickelt [worden].« (MEW 20, 125)

Weniger ist mehr

Herbert Hörz, ehemaliger Leiter des Zen­tralinstituts für Philosophie in Berlin und Gründer und Ehrenpräsident der Leibniz-Sozietät, hat in seinem Buch »Materialisti­sche Dialektik – Aktuelles Denkinstrument zur Zukunftsgestaltung« (Berlin: trafo-Verlag 2009) vor einer schematischen Anwendung der Gesetze gewarnt, wie sie zeitweise im Marxismus-Leninismus des Realsozialismus vertreten wurde. Er meint, dass Dialektik als Heuristik, also als »schöpferische Suche nach Problemlösun­gen ohne vorgegebenes, einfach abzuar­beitendes Lösungsschema« durchaus nütz­lich wäre. Dies gilt für alle Fragen von Ent­wicklungsprozessen, auch für die Frage nach der Entstehung von Neuem.

Wie entsteht Neues?

Für dialektisch denkende Menschen stellt sich die Aufgabe, die neuen Erkenntnisse in den Wissenschaften im Sinne der Dia­lektik zu hinterfragen und auf diese Weise spezifische Formen der Dialektik aufzufin­den, die in den drei Grundgesetzen von Hegel/ Engels nicht vorkommen und tie­fere Einsichten in die Gesetzmäßigkeiten der Natur bieten. Einen wichtigen Meilen stein in diese Richtung setzte der Chemie-Nobelpreisträger 1977 Ilya Prigogine, der sich in dem gemeinsam mit Isabelle Sten­gers verfassten Buch Dialog mit der Natur mit dem Auftreten von neuen Qualitäten in Physik und Chemie beschäftigte und gezeigt hat, dass der zweite Hauptsatz der Wärmelehre bisher einseitig interpretiert worden ist. Auf der Basis des zweiten Hauptsatzes entwickelt sich ein abge­schlossenes System stets in Richtung zunehmender Entropie, das heißt, dass nur noch Unordnung und Chaos herr­schen und die Welt im so genannten Wär­metod versinken würde. Der Wärmetod ist ein von Rudolf Clausius 1867 einge­führtes Bild für den »Zustand […] des finalen thermischen Gleichge­wichts des Universums«, aufgefasst als abgeschlossenes System. Dies war die bis in die 1960er Jahre weit verbreitete Auf­fassung vom Endzustand der physikali­schen und chemischen Evolution.

Prigogine und Stengers haben jedoch gezeigt, dass trotz Geltung des zweiten Hauptsatzes fern vom thermodynami­schen Gleichgewicht spontan neue mate­rielle Strukturen entstehen können. Unordnung und Chaos können sich unter diesen Bedingungen in Ordnung verwan­deln und dissipative Strukturen hervorbrin­gen.1 Sie verringern lokal die Entropie, indem sie Materie, Energie oder beides mit ihrer Umgebung austauschen und dadurch den Entropiezuwachs anderswo­hin verschieben. So bilden sich durch Selbstorganisation neue Strukturen, die in der Nähe des thermodynamischen Gleich­gewichts nicht möglich sind. Es gibt zahl­reiche Beispiele dafür: Die Bénardzellen, die beim Kochen von Wasser auftreten, aber auch Hurrikans, Kerzenflammen oder chemische Uhren, die in bestimmten Zei­ten ihre Farbe selbsttätig ändern. Ebenso kann aus einer Kette von Kohlewasserstof­fen spontan ein Benzolring, also eine neue Struktur entstehen. Dabei scheint Materie unter bestimmten Umständen ihre Umge­bung lokal widerzuspiegeln. So beginnt der Bénardeffekt oder das Blinken der che­mischen Uhren erst ab einer bestimmten Umgebungstemperatur.

Computerdialektik

Am Institut für Gestaltungs- und Wir­kungsforschung an der TU Wien haben Kolleg*innen und ich versucht, einen evo­lutionären Informationsbegriff zu formu­lieren, der sich mit der Entwicklung der Welt ebenfalls entwickelt und mit der Widerspiegelung zusammenhängt.

In Übereinstimmung mit diesen Ergeb­nissen möchte ich daran erinnern, dass Lenin bereits in seinem 1908 verfassten erkenntnistheoretischen Werk Materialis­mus und Empiriokritizismus darauf hinwies, es sei logisch, »anzunehmen, dass die ganze Materie eine Eigenschaft besitzt, die dem Wesen nach der Empfindung ver­wandt ist, die Eigenschaft der Widerspie­gelung.« (Lenin Werke 14, 85) Bis heute ist diese Aussage umstritten, denn was ist das »Wesen der Empfindung«? Bezieht es sich auf ein Phänomen, das von außen oder nur von innen wahrgenommen werden kann? Hier ist weitere Forschungsarbeit nötig.

»Information ist der Inhalt der Wider­spiegelung«, formulierte der Berliner Bio­loge und Informatiker Klaus Fuchs-Kit­towski den Zusammenhang. Formen der Widerspiegelung reichen von der einfa­chen Wechselwirkung der vier grundle­genden physikalischen Gesetze des Zusam­menhangs der Materie über einfache phy­sikalische und chemische Widerspiege­lungsvorgänge (Beispiele: ein Stein wird von der Sonne erwärmt, Zufrieren eines Sees), über Widerspiegelung der Umwelt bei Pflanzen und Tieren (Beispiel: Kirsch­blüte im Frühling), beim Einzelmenschen (wo die Lüge auftreten kann), bis zu kom­plexen Kommunikationsvorgängen in der menschlichen Gesellschaft (fake news).

In den letzten Jahrzehnten des 20. Jahr­hunderts gab es Diskussionen, ob der Com­puter in der Lage ist, Neues hervorzubrin­gen, oder ob er nur dem simplen Schema von garbage in, garbage out (Müll hinein, Müll heraus) folgt, ohne einen qualitativen Wandel hervorzubringen, wie der US-Philo­soph John Searle behauptet hat.

Der blinde Springer

Gemeinsam mit meinen Söhnen hat mich diese Fragegestellung gereizt. Sie hat zu einem einfachen Computerprogramm mit dem Namen Der blinde Springer geführt, das online angesehen werden kann (http:// peter.fleissner.org/springer/default.htm). Es demonstriert, wie aus der Dialektik von Zufall und Notwendigkeit als qualitativ Neues eine simple Sprache entsteht, die nicht nur die beiden Subjekte am Compu­terbildschirm verstehen, sondern die auch Sie als Beobachter*in nachvollziehen kön­nen. Die Situation ist leicht zu beschreiben: Zwei computergenerierte Wesen interagie­ren miteinander, ein Blinder, der über ein bewegliches Hindernis springen soll, und ein Lahmer, der das, was er sieht, dem Blin­den durch einen bestimmten Ton aus einer Trompete signalisiert. Aber alle Aktionen sind anfangs völlig zufällig bestimmt. Der Blinde hört auf das Trompetensignal und versucht zunächst durch einen Sprung zufälliger Weite, das Hindernis zu überwin­den, das seine Länge ebenfalls zufällig ändert. Der Lahme erzeugt mit seiner Trompete zunächst einen nur zufällig aus­gewählten Ton. Durch Versuch und Irrtum werden die Wahrscheinlichkeiten so modi­fiziert, dass die anfänglich gleiche Wahr­scheinlichkeit für den Sprung und das Trompetensignal bei gutem Ergebnis ver­stärkt (die Wahrscheinlichkeiten werden in den Quadraten links oben angezeigt), bei negativem aber geschwächt wird (ein nega­tives Ergebnis tritt dann ein, wenn der Blinde zu weit oder zu kurz springt. Der Computer gibt dann ein Zischen von sich). Nach einigen Wiederholungen stellt sich eine feste Zuordnung von Tonhöhe und Sprungweite ein, d. h. eine Sprache zwi­schen den beiden Subjekten hat sich herausgebildet, die Sie als Beobachter*in verstehen können. Zu ihrer Herausbildung ist kein Bewusstsein nötig. Interessant ist, dass die Sprache, die entsteht, nicht vor­hergesagt werden kann, ohne den ganzen Prozess ablaufen zu lassen. Bei Wiederho­lung des Experiments kann eine andere Sprache entstehen.

Um zu zeigen, dass diese Methode zur Erzeugung von Neuem nicht bloß wissen­schaftliche Spielerei, sondern auch empi­risch brauchbar ist, darf ich auf die Disser­tation von Robert Jahn verweisen, der in seiner Arbeit Aspekte des Informationsbe­griffs in der Ethologie genau diese Methode zu Erklärung der Entstehung einer Vogel ­sprache (»individuenspezifische Duett-Typen«) der Vogelart Laniarius funebris (Trauerwürger) aus der Gattung der Sper­lingsvögel verwendet hat.2

Der blinde Springer zeigt, dass auch am Computer Neues geschaffen werden kann, indem zufällige Vorgänge immer stärker deterministisch bestimmt werden. Dialek­tisch gesprochen hat sich aus Zufall eine Notwendigkeit für qualitativ Neues herausgebildet.

Heute wäre es eine interessante Aufgabe, die Entwicklung der Naturwissenschaften mit ähnlichen Methoden zu untersuchen, wie es Engels getan hat. Es besteht meiner Meinung nach die berechtigte Hoffnung, dass dadurch die Einsicht in die speziellen Formen der Zusammenhänge in der Natur oder in den Einzelwissenschaften vertieft werden kann.

1 Diese Sicht zeigt dialektisches Denken, obwohl Prigogine dafür lieber den Begriff Dialog als den der Dialektik ver­wendet hat.

2 https://www.academia.edu/1915604/Aspekte_des_ Informationsbegriffs_in_der_Ethologie

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