WENIGER ARBEITSLOSE, MEHR LOHNABHÄNGIGE?: Schöner Schein

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Unter der schöngeredeten Oberfläche der Berichterstattung in den Medien brodelt es, und das nicht nur in Österreich. Die Bedingungen für die Lohnabhängigen verschlechtern sich.

Nach Angabe der Regierung und der meisten Medien befinden wir uns in Österreich seit Schwarz-Blau in einer Phase des wirtschaftlichen Aufschwungs. Das hohe Wachstum bringe uns allen große Vorteile, die Arbeitslosigkeit gehe zurück, und um den Arbeitsmarkt sei es besser bestellt als je zuvor. Damit sollten wir eigentlich alle zufrieden sein. Aber lassen wir uns nicht täuschen: Statistiken über die Wirtschaftsentwicklung, die einen Rück­gang der Arbeitslosigkeit melden, und die konkrete Lebenssituation der Menschen sind nicht dasselbe.

Der Neoliberalismus zeigt sein hässliches Gesicht

Für Lohnabhängige verschlechtern sich die konkreten Arbeitsbedingungen. Die deut­sche Soziologie hat dafür drei Begriffe geprägt, die den Arbeitsalltag zunehmend prägen: Entsicherung, Erschöpfung und Ent­menschlichung.1 Das zeigen viele Befragun­gen in den Betrieben unseres nördlichen Nachbarn. Als Ausdruck des längerfristigen Krisenprozesses kommt es zu unhaltbaren Zuständen für die ArbeiterInnen und Ange­stellten. Darüber hinaus zu hoher Arbeits­losigkeit. Das äußert sich in hohem Arbeits­druck und permanenter Unsicherheit bei Beschäftigung, Einkommen und Arbeitsbe­dingungen. Als Ursachen werden vor allem die dauernden Veränderungen in der Orga­nisation gesehen, wie z. B. die Aufspaltung von Abteilungen, die Verlagerung von Betrieben oder Betriebsteilen, die Kosten­senkungsprogramme und die erhöhte Kon­kurrenz mit anderen Standorten. Es lässt aufhorchen, dass die Beschäftigten die Kon­sequenzen der Reorganisationsmaßnahmen negativer erleben als die Folgen der Finanz­marktkrise 2008. Arbeitshetze und Burn-out nehmen weiter zu.

Die neoliberale Ausrichtung der Wirt­schaft hat sich seit den 1990er Jahren in einer finanzmarktorientierten Unterneh­menssteuerung niedergeschlagen, die von einem Um- und Abbau der Systeme der sozialen Sicherheit begleitet war. Alles muss immer flexibler werden, kurzfristig veränderbar sein und schneller ablaufen. Ein Beschäftigter eines kleineren Metallbe­triebs, der Teil eines Firmenkonglomerats ist, bringt es auf den Punkt: »Wir haben einen Investor, der letztendlich jede Mög­lichkeit ausschöpft, um Gewinnerträge durch legale Firmenspaltungen zu steigern […] Da wird Angst geschürt, von wegen Arbeitsplatzunsicherheit […] und da ist so eine Ohnmacht. Weil selbst wenn wir uns organisieren würden, dann wären wir in diesem Großunternehmen letztendlich ein ganz kleines Ding, das man schnell wegki­cken kann. Und das wissen die Leute auch«.2 Es entsteht vor allem bei älteren Beschäftigten ein Gefühl der Überforde­rung. Sie kommen nicht mehr mit, sie füh­len sich abgehängt. »Maschinen können bestimmt gewisse Sachen schneller machen, aber die Menschen nicht. Und wir als Menschen gehen überall verloren, egal in welchem Betrieb […] man wird aggressiv und ausgepowert.« (a.a.O. 119)

»In den Betrieben gibt es Dienststellen, da sind 100 Prozent aller Neueinstellungen die ersten zwei Jahre befristet. Also die stellen gar nicht mehr unbefristet ein. […] die Teams werden immer kleiner, es muss aber das Arbeitspensum gehalten werden. Und jetzt müssen die Arbeit, die vorher vielleicht 25 Leute erledigt haben, 15 oder 17 Leute erledigen, und das auf gleichblei­bendem Niveau. […] Das übt wahnsinnig viel Druck auf die Leute aus.« (a.a.O. 120)

Das Management setzt häufig unerreich­bare Ziele, besonders in den Dienstleis­tungssektoren (Banken, Telekommunika­tion, Logistik), wo die Leistungskontrolle über moderne Systeme wie Monitoring, Dokumentation und/oder Controlling läuft. »Wenn man einem Hund die Wurst hinhält, die kann man immer höher ziehen. Der erwischt die Wurst nie! Und wenn wir 100 Prozent oder 105 Prozent erreicht haben, super, aber das ist gleich vergessen – es geht ja auch mit 110. Es wird das Erreichte nicht mehr geschätzt. Und das macht Leute krank.« So eine Stimme unter vielen. (a.a.O. 120)

Das Wohlstandsversprechen des Kapitalismus bröckelt

»Die Untersuchung belegt eine Grundstim­mung in der Bevölkerung, in der die aktu­elle Lebenssituation als überwiegend posi­tiv wahrgenommen wird. Aber viele Bürger innen und Bürger äußern Sorgen mit Blick auf die Zukunft. Soziale Gerech­tigkeit ist nach wie vor für die Wahlberech­tigten von hoher Bedeutung, aber am wich­tigsten ist es den Menschen, Verantwor­tung für sich selbst zu übernehmen. Gleich­zeitig sorgen Globalisierung, Freihandel und technischer Wandel für Verunsiche­rung, und sozialer Zusammenhalt und Aus­gleich gelten als gefährdet. Es besteht die Erwartung an Politik, gleiche Chancen und soziale Gerechtigkeit herzustellen, es wird Politik und Institutionen aber nicht von allen zugetraut, dass die eigenen Interessen und Bedürfnisse berücksichtigt werden.«3 Die Menschen haben den Eindruck, sie wer­den vom Staat und von den meisten politi­schen Parteien im Stich gelassen, vor allem von der Sozialdemokratie. Die Gewerk­schaften werden (noch) als hilfreiche Ein­richtungen wahrgenommen, die aber zunehmend schwächer werden.

Working poor

Heute zeigt sich, dass auch Vollzeit-Lohn­verhältnisse nicht immer ausreichen, um die arbeitende Person zu ernähren, ganz zu schweigen von einer Familie. Dazu eines von mehreren Beispielen aus dem Buch von Veronika Bohrn Mena Die neue ArbeiterIn­nenklasse – Menschen in prekären Verhältnis­sen (ÖGB-Verlag Wien 2018). Die Salzburge­rin Dina (a.a.O. 144 ff) steht für jene unselbstständig Erwerbstätigen, die instabil beschäftigt sind. Dies bedeutet, dass die Betroffenen nicht einmal ein Jahr durchge­hend für die gleiche Firma tätig sind. Dina hat – da ihr Vater arbeitslos geworden war und ihre Mutter als Reinigungskraft schlecht bezahlt wurde – sich schon mit 15 als Tellerwäscherin verdingt. Um sechs Euro pro Stunde schuftete sie in einer klei­nen Küche ohne Klimaanlage, in der im Sommer 40 bis 50 Grad herrschten. Obwohl selbst undokumentiert beschäftigt, war sie zum Glück bei den Eltern mitversichert. Der Versuch, ein Gymnasium tagsüber zu besuchen, scheiterte nach kurzer Zeit, sie war einfach zu müde. Nach dem Ende der Sommer- und Festspielsaison teilte ihr der Chef an einem Samstagabend mit, dass sie am folgenden Tag nicht mehr wiederzu­kommen brauche, und drückte ihr noch zehn Euro extra in die Hand. Da sie damals keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld hatte, musste sie sich von einem Kurzzeit-Job zum nächsten hanteln. Ab 16 arbeitete sie als Aushilfs-Rezeptionistin für die Nachtschicht in einem Hotel, dann als Zim­mermädchen in einer schäbigen Herberge in der Bahnhofsgegend und sogar als Wach­frau für einen privaten Sicherheitsdienst in einem Parkhaus. Bis 19 hatte sie aus­schließlich in der Nacht gearbeitet, obwohl sie das Arbeiten in der Nacht hasst. Sie wurde angeschrien, beschimpft und begrapscht, unabhängig davon, ob es Män­ner im teuren Anzug waren, die im Park­haus ihren Mercedes nicht fanden, oder ob es weniger gut gekleidete Trunkenbolde waren, die sich im Suff in die Bahnhofsab­steige verirrt hatten.

Das Arbeitsschicksal von Dina ist keine Ausnahme. Über ein Drittel aller unselbst­ständig Beschäftigten ist kürzer als ein Jahr beschäftigt, nur ein Fünftel der Beschäftig­ten behält ihren Arbeitsplatz länger als zwei Jahre. Mehr als drei Viertel der Men­schen, die 2010 eine Stelle angenommen haben, haben sie nach zwei Jahren wieder verloren. Besonders schlimm geht es in der Landwirtschaft zu, dort sind 80 Prozent weniger als ein Jahr beschäftigt, im Touris­mus 70 Prozent, im Dienstleistungsbereich mehr als 60 Prozent, gefolgt vom Sektor »Kunst, Unterhaltung und Erholung« (56 Prozent), Bauwirtschaft (55 Prozent) und »Erziehung und Unterricht« (43 Prozent).

Die unterjährig Beschäftigten verdienten im Jahr 2015 im Mittel 1.821 Euro brutto, während die ohne Unterbrechung ganz­jährig Beschäftigten mit 2.438 Euro (ohne 13. und 14. Gehalt) um ein Drittel besser entlohnt wurden.

Zurück zu Dina. Als sie 23 geworden war, verlor ihre Mutter wegen Schließung der Reinigungsfirma ihren Job. Dina versuchte nun, mit zwei Jobs gleichzeitig genug Geld heranzuschaffen, um die Miete für die gemeinsame Wohnung aufzubringen. Auch damit ist Dina nicht allein. In Österreich machen das mehr als 200.000 Beschäftigte. Allein im Jahr 2017 kamen 15.700 Mehr­fachbeschäftigte hinzu, vor zehn Jahren waren es rund 40.000 Beschäftigte weni­ger. Fast ein Viertel der österreichischen Erwerbshaushalte und 212.000 Vollzeiter­werbstätige liegen unter der Armutsge­fährdungsschwelle von 1.238 Euro.

Selbstausbeutung im Ein-Personen-Unternehmen

Üblicherweise glauben viele, dass es UnternehmerInnen besser geht als den Lohnabhängigen. Das stimmt zwar bei Per­sonen, die als Selbstständige in besonders privilegierten Berufen arbeiten, etwa NotarInnen, RechtsanwältInnen, Ärzte/Ärtzinnen, ImmobilienmaklerInnen, Haus- und GrundbesitzerInnen, deren Tätigkeit per Gesetz geschützt ist und deren Einkommen dadurch gesichert sind. Aber für viele Ein-Personen-Unternehmen (EPU) ist die Lage ganz anders. Sie leben häufig in größerer Unsicherheit als Lohn­abhängige. Für sie ist unklar, ob ihnen ihr Einkommen erhalten bleibt, ob sie nicht demnächst einer Sparmaßnahme zum Opfer fallen oder ihre finanzielle Entschä­digung in Zukunft nicht noch geringer ausfallen wird. Hier soll als Beispiel der Paketzusteller Ercan (a.a.O. 130 ff) heran­gezogen werden. Er ist Subunternehmer im freien Kleintransportgewerbe, wofür man keinen Gewerbeschein braucht. Mon­tag bis Samstag fährt er um vier Uhr früh mit seinem geleasten Transporter von Baden nach Gerasdorf. Er braucht eine Stunde, bis er in der schäbigen, dreckigen und stinkenden (es gibt keine Toiletten) Lagerhalle eintrifft, um zwei Stunden lang »seine« Pakete vom Förderband zu neh­men. Dies ist keine leichte Arbeit, da manche Pakete bis zu 35 Kilo wiegen. Rückenpro­bleme schon mit 25 Jahren sind die Folge. Trotz Selbstständigkeit ist die Arbeitshetze groß. Um 75 Euro am Tag zu verdienen, muss er 150 Pakete abliefern. Strafzahlungen in der Höhe von 50 Euro gibt es für erst nach zwölf Uhr mittags abgelieferte Pakete, auch wenn Pakete zwei Mal zugestellt werden müssen, regnet es Strafen. Eine 65-Stunden Woche ist für ihn ganz normal. Da er selbst­ständig ist, gelten für ihn kein Arbeitszeitge­setz, keine Höchstarbeitszeit und kein Kol­lektivvertrag. Seine Arbeitszeit ist um mehr als zehn Stunden pro Woche höher als bei Lohnabhängigen im Mittel.

Gegenwehr nötig

In Österreich ist die Gruppe der EPUs bunt zusammengewürfelt. Neben dem Finanz­buchhalter, der Architektin und dem Foto­grafen reicht der Bogen bis zu den 24-Stun­den-Betreuerinnen, die fast ein Viertel aller EPUs ausmachen. Sie sind eine Gruppe, die mit selbstständigem Unternehmertum gar nichts gemeinsam haben. Weder können sie frei über ihre Zeit verfügen noch sich vertre­ten lassen. Sie sind weisungsgebunden und vollkommen abhängig von der zu pflegenden Person.

Viele weitere Beispiele, etwa Praktikant ­Innen, Hochschulangestellte und andere Gruppen der prekär Beschäftigten zeigen, dass Menschen auch hierzulande oft unter skandalösen Bedingungen und für einen Hungerlohn arbeiten müssen. Gewerkschaf­ten und einschlägige politische Parteien müssen endlich gemeinsam mit den Lohnab­hängigen ihre Zähne zeigen und sich zur Wehr setzen!

1 https://www.vsa-verlag.de/nc/detail/artikel/rechtspopulis­mus-und-gewerkschaften/

2 https://www.zeitschrift-luxemburg.de/entsicherung-erscho­epfung-entmenschlichung/

3 https://www.boeckler.de/pdf/p_fofoe_WP_044_2017.pdf

Gelesen 6409 mal Letzte Änderung am Donnerstag, 02 Mai 2019 13:25
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