Ein Fluss, der einem Konzern den Prozess macht, weil eine Vergiftung droht? Das ist in jenen wenigen Ländern möglich, in denen Klagerechte der Natur festgeschrieben sind. Am besten funktioniert das, wenn die Flüsse die Verfahrenskosten aus einem staatlichen Topf nehmen.
Von Robert Sommer
Wer heute ein Klagerecht für Gewässer, Wälder oder Berge postuliert, stößt auf Zustimmung in der Theorie (»ein guter Gedanke, leider aber gänzlich Zukunftsmusik«) und Ablehnung in der Alltagspraxis (»eine Verfassung, die mir nimmt, was mir das Leben bedeutet – das Schnitzel! – ist Diktatur«). Reine Zukunftsmusik war die Erfindung des Klagerechts der Natur nicht einmal vor einem halben Jahrhundert, sonst hätte der Autor und Jurist Christopher Stone kaum jenes öffentliche Interesse für die Entmachtung des menschlichen Monopols, Subjekt der Justiz zu sein, hervorgerufen.
Stone schrieb 1972: Wir könnten zu dem Punkt gelangen, wo wir die Erde als einen Organismus betrachten, von dem die Menschheit ein Teil ist – verschieden vom Rest der Natur, der nur so verschieden wie das Gehirn eines Menschen zu seiner Lunge ist. In seinem Buch »Should Trees Have Standing« (»Sollten Bäume Klagerecht haben«) argumentierte er für die Einführung sämtlicher Objekte der Natur in ein sowohl durch die Verfassung als durch staatliche Ressourcen abgesichertes Verteidigungssystem. Wäldern, Meeren, Flüssen, Seen, Gletschern – all diesen Systemen müssten formale Rechte zugestanden werden. Die Voraussetzung dafür wäre ein Beschluss der Parlamentsmehrheit, solange es in den so genannten Demokratien noch keine ständigen BürgerInnenräte der Verfassungsgebung und des Verfassungsschutzes gibt.
Es ist nicht ganz uninteressant zu wissen, in welcher Ecke der Welt Christopher Stone sein Konzept popularisieren konnte. Überall in der Welt, wo indigene Gruppen die Kraft bewahrten, ihre Rechtsauffassungen gegenüber den völlig anders gelagerten Justizsystemen der kolonialistischen Gesellschaften zu behaupten, herrscht z. B. eine lebendige Debatte zum Thema Strafen. In Mitteleuropa kommen solche Diskurse nur schwer in die Gänge. Die Ängste der »modernen« Menschen vor ihren Mitmenschen aus der sozialen Schicht der Delinquenz erschweren Konfliktlösungen jenseits von institutionalisierter Rache.
In Neuseeland können ein bestimmter Wald, ein bestimmter Fluss, ein bestimmter Berg zur eigenen Rechtsperson werden.
Dies geschah zum Beispiel, um die totale Nutzbarmachung des Whanganui River durch den Energiekonzern Genesis Energy zu verhindern. Die Gesetze, die es ermöglichen, stützen sich auf die traditionelle Einsicht in die Einheit von Fluss und Mensch, ausgedrückt in der Regel »Ko au te awa, ko te awa ko au« (Ich bin der Fluss und der Fluss ist ich). Der Fluss begann seine Existenz als eigene Rechtsperson mit einer Dotierung von fast 20 Millionen Euro. Ein Rat, der sich aus allen Interessensgruppen bildet, ist entstanden. Einer der beiden Sprecher des Rates muss den Maori angehören.
Nicht einmal eineTräne im Fluss
Am besten, so war vor kurzem in der »Süddeutschen Zeitung« zu lesen, scheint das Naturklagerecht inzwischen im Südosten der USA zu gedeihen. Bei der Wahl im vorigen November statteten die Einwohner von Orange County, Florida, ihre Gewässer per Referendum mit einem juristisch verbindlichen Recht aus – dem Recht zu existieren, zu fließen, vor Verschmutzung geschützt zu werden und ein halbwegs normales Ökosystem aufrechterhalten zu können. Zwei Bäche, zwei Seen und ein Stück Schwemmland haben sich zusammengetan, um den Immobilienentwickler Beachland South Residental zu hindern, Siedlungen in die von Tourist*innen gern besuchten Landschaften zu streuen.
Bei dem erwähnten Referendum haben 89 Prozent der Teilnehmer*innen dafür gestimmt, ihren Gewässern Rechte zu verleihen. Ein entsprechender Erfolg sollte doch auch durch eine Initiative in der niederösterreichischen Stadt Neunkirchen »ins Trockene« zu bringen sein. Der Sarkasmus dieses Wortspiels wird uns spätestens auf der Brücke über die Schwarza bewusst. Wer hier ein Gurgeln des Wassers hört, leidet an Tinnitus. Kein Wasser, weit und breit … Eine Frau, die wir auf der Schwarza-Brücke als erste Auskunftsperson treffen, überrascht mit einer Verschwörungstheorie. Ich vermute, Wien entzieht uns das ganze Wasser, vertraut sie uns an; anscheinend weiß sie, dass die Volksstimme in diesem Fall kein Klagerecht hat. Wilder als alle anderen niederösterreichischen Gebirgs gewässer schießt die Schwarza durch das
Höllental zwischen Schneeberg und Rax – und wenige Kilometer flussabwärts ist sie verschwunden, wie schaffen das die listigen Simmeringer?
Ein etwas kompetenterer Informant, der Schafwollschneider der Stadt, ist angetan von der Vorstellung des Klagerechts des Flusses. Aber wie ist das mit den Verjährungsfristen? Was hat es für einen Sinn, den früheren Zustand der Schwarza herstellen zu wollen, wenn kein Zustand, an den sich die Neunkirchner*innen erinnern können, etwas mit Wasser zu tun hat.
Urbanes Fließgewässer
In den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts (die Schwarza war schon damals ein Witz) erschien eine Expertise (Verfasser: D. Stur), die den legalisierten Diebstahl des Wassers durch die Kraftwerke und Industriebetriebe brandmarkte. Hätte es damals ein Klagerecht des Gewässers gegeben, der Sachverständige hätte alles unternommen, ein Gewässer gegen das andere auszuspielen: die Werksbäche Neunkirchens gegen den Hauptfluss von Neunkirchen.
Aus Sturs Gutachten: Nur dort, wo der Mensch mit seiner civilisatorischen Hand eingreift, wir das Gleichgewicht der Natur gestört, die wohltätige Hand der Natur ohnmächtig. So lange nur Mühlen an der Schwarza existierten, gab es in der guten alten Zeit an Wasser keine Noth. Auch die Eröffnung bescheidener Fabriken war nicht imstande, die Einrichtungen der Natur zu verwischen. Der neueren Zeit wird eine solche Störung erst zugeschrieben werden müssen, und zwar seitdem man, auf Landwirtschaft gänzlich vergessend, jeden Tropfen des Wassers als Kraft auszunutzen bestrebt ist; seitdem durch Fabriksarbeit die frischen Gebirgswässer zu fisch- und menschenthötenden Jauchen umgestaltet, durch ihren Schmutz auch den permeabelsten Schotter zu verunreinigen und wasserdicht zu machen im Stande sind; seitdem man künstliche, oft aus Quadern gebaute völlig wasserdichte Canäle baut, in welchen das Werkwasser von einer Hand in die andere transportiert und genötigt wird, das Land sobald als möglich zu verlassen, ohne dem Lande als Trinkwasser, als Nutzwasser, als Berieselungswasser, als Erfrischerin der Luft Dienste geleistet zu haben; kurz seitdem das Gebirgswasser in den fast ausschließlichen Besitz der sogenannten Werksbesitzer überging und an den großen Fabriken fließend, zur Aufsammlerin und Transporteurin allen Schmutz, Unrathes und der Krankheitsstoffe gemacht wurde […]. Man vergisst jedoch darauf, dass man durch Erweiterung der Canäle, durch Erhöhung der Wehren immer mehr und mehr Wasser durch die wasserdichten Canäle fließen lässt, also faktisch die Länder entwässert …
Unser erstaunlich kompetenter Wasserexperte konnte nicht ahnen, dass hundert Jahre später jene Industrien nicht mehr existieren würden, die die Kanäle in Kloaken verwandelten; ihr Wasser ist klar und rein geworden, bloß saust es mit zu hohem Tempo die Stadt hinaus. Eine Rechtspersönlichkeit »urbanes Fließgewässer«, also eine kombinierte, aus Flüssen, Kanälen, Brunnen und Regenwasser zusammengesetzte Rechtspersönlichkeit, müsste ihres Amtes walten. Ein Minimundus antagonistischer Interessensgruppen tut sich da auf und mindert die Erfolgsaussichten des kommenden Klagerechts. Die Kleinkraftwerksbetreiber an den Mühlbächen werden freiwillig keinen Kubikzentimeter Kanalwasser an die Möchtegern-Flussfischer abgeben. Wer hier am Ufer sitzt (wobei dieses Wort erst in Verbindung mit Gewässer sinnvoll ist), den würde das plötzliche Auftauchen einer staubigen Elefantenherde auf der verzweifelten Sache nach Wasser weniger ins Staunen versetzen als das plötzliche Erscheinen eines Rinnsals.
Flüsse sollen frei fließen
Der ausgetrocknete Fluss hat zumindest das Recht, ein Rinnsal zu werden, wie das Rinnsal das Recht hat, ein Bächlein zu werden. Was allen österreichischen Flüssen gemeinsam ist, sind die Flussbarrieren – also jene Querbauten, die für Fische unpassierbar sind. Die Forderungen, die letzten freifließenden Flussstrecken zu schützen und unnötige Querbauwerke abzureißen, sind zu handfest und pragmatisch, als dass sie nicht Gegenstand eines Gerichtsverfahrens sein müsste, in dessen Verlauf die Beobachtenden zumindest einen Moment lang die Erfahrung der neuseeländischen Maori teilen: Ko au te awa, ko te awa ko au.
Laut österreichischem Umweltministerium steht mit rund 28.700 Flussbarrieren im Schnitt alle 900 Meter ein unpassierbares Hindernis in Österreichs Flüssen. Von etwa
32.000 Flusskilometern können nur noch 5.500 Kilometer frei fließen. Es gibt 5.200 Wasserkraftwerke. Hunderte neue Anlagen sind geplant. Die Kraftwerksgesellschaften werden vom Staat subventioniert – was paradox erscheint, denn auch die Wasserökologiebewegung wird subventioniert.
Strukturen, die Flüsse zerschneiden, sind nicht nur für Wanderfische, die zwischen Süß- und Salzwasser pendeln, ein erhebliches Problem. Fische müssen zum Laichen stets flussaufwärts schwimmen, wie die Strömung ihre Larven in Richtung Mündung treibt. Das ist das Ziel der neuen Bio-Diversitätsstrategie der Europäischen Union: bis zum Jahre 2030 sollen Flüsse in Europa wieder 25.000 Kilometer frei fließen können. Soweit bekannt ist, glauben die meisten Gewässerschützer*innen in Deutschland, dass solch Erfolge auch ohne Klagerecht erreicht werden können.
Das mag sein, denn in vielen Flüssen Europas werken derzeit flussökologisch fokussierte Firmen im Auftrag der Gemeinden daran, Flüsse zurückzubauen. Aktuelles Beispiel aus Wien: ein neuer Abschnitt des Liesingbach wird »verwildert«. Dass Firmen beauftragt werden, die Landschaft rund um die Gemeinde zu verwildern, um das katastrophale Artensterben zu verhindern, kommt seltener vor. Angesichts des kommunalen Haushaltsnotstandes ergreifen die Bürgermeister die Chance der Umwidmung von Grund und Boden. Deswegen ist ja nach jeder Ortsausfahrt der Gemeinden eine Supermarktanhäufung zu sehen. Die riesigen, in Schuss gehaltenen Parkplätze in diesen Gewerbe- und Konsumgebieten stehen am Wochenende nahezu leer, doch dem nach der absoluten Ebene suchenden Stockschützenverein ist die Nutzung der Wüsten der Versiegelung verboten.
Unsere Mustergemeinde, in der ein Bürgermeister wie unser Herr Otto Mustermann die Geschäfte führt, ist nicht Kitzbühel. Dort ist es unendlich profitabel, wenn ein Acker am Rande der Gemeinde von Grünland in Bauland umgewidmet wird. Das Resultat ist eine Wertsteigerung des Grund und Bodens von im Schnitt 16.000 Prozent. Selbst für unseren Bürgermeister ist diese Gewinnspanne kaum nachvollziehbar.
Warum nicht auch ein Klagerecht der Äcker?
Die Mieten, die aus diesen Kitzbüheler Bodenpreisen entstehen, sind gerade für die Familien der gesamtplanetarischen Oligarchien leistbar. Also, es war einmal ein Bürgermeister, dessen Umwidmungen im Sinn eines gesunden Gemeindehaushalts, wie er meinte, nicht einen 16.000-fachen, aber immerhin einen normalen 600-fachen Profit brachten; die Grundsteuer als Form der Besteuerung dieser Wertexplosionen, die ohne Leistung zuwege gebracht wird, ist in Österreich ausgesprochen mickrig. Österreich hat dadurch in den letzten 20 Jahren so viel Ackerflächen verloren, wie das Gemeindegebiet von Mürzzuschlag groß ist. Achtung, dieser Zahlenfehler ist pädagogisch untermauert! Es wurde realiter so viel Ackerfläche verloren, wie die Steiermark groß ist.
Das klingt unglaublicher, ist aber wahr. Mit dem Verkauf von Boden lässt sich mehr Geld machen als mit der Ernte. Immer wichtiger wird eine Debatte zur Grund- und Bodenfrage – als Teil der Verfassungsfrage. Es ist nicht egal, ob in der Verfassung von der Unverletzlichkeit des Eigentums ausgegangen wird, wie es in Österreich der Fall ist, oder ob, wie in Deutschland formuliert wird, Eigentum verpflichtet. Krasse politische Unterschiede entspringen diesen Nuancen allerdings nicht. Niemand würde sich wundern, wenn Österreich – dieses Land mit der am schnellsten sich ausbreitenden Bodenversiegelung – erstmals auch mit dem Konzept eines Klagerechts der Äcker gegen die Supermärkte auf der grünen Wiese aufhorchen lässt. Der Bauernbund möge die Implikationen eines solchen Spezialrechts prüfen.