23 September

Buchtipp: Linker Antisemitismus?

von

Die Frage danach, ob es eine besondere Form des Antisemitismus bzw. das spezifische Phänomen »linker Antisemi­tismus« in Theorie und Praxis der Linken gibt oder gab, zieht sich wie ein roter Faden durch den von Gerhard Hanloser herausgegebenen gleichnamigen Sammel­band. In neun Aufsätzen ergründen die AutorInnen aus historischer, philosophi­scher, literaturwissenschaftlicher Per­spektive die im linken Lager verordneten Erscheinungsformen von Antisemitismus und kommen darin allesamt zu dem Ergebnis: Eine spezifisch linke Feindschaft gegen Juden ob ihres Jüdisch-Seins exis­tiert nicht. Vielmehr erfüllt der Vorwurf des Antisemitismus gegen die Linke die­selbe Funktion wie einst der von antise­mitischer Seite geäußerte Vorwurf, etwas sei »jüdisch«, nämlich die Immunisierung der eigenen Position durch »die Diskredi­tierung des Gegners« (8).

In der Kategorie des linken Antisemitis­mus begegnet uns also, so die Kernaus­sage des Buches, eine klassische Form des Totschlagarguments, die linke Gesell­schaftskritik a priori im Keim ersticken will. In den Blickpunkt gerät dabei in iden­titätspolitischer Manier nicht länger die inhaltlich-argumentative Ebene linker Gesellschaftstheorie, sondern die morali­sche Wertigkeit ihrer Agenten. Die Komple­xität des Nahostkonflikts, die Ambivalenz des Zionismus sowie das umfangreiche Unterfangen, die kapitalistische Produkti­onsweise theoretisch zu fassen, erfährt in der Denkschablone des Antisemitismus-Vorwurfes eine simplifizierende Reduktion auf den banalen Fingerzeig: »Das ist antise­mitisch!«. Schlagwörter ersetzen Argu­mente, Kritik weicht Diffamierung und Tabuisierung tritt an die Stelle begrifflicher Analyse, was besonders deutlich von Peter Menne für den Theaterskandal rund um Fassbinders Stück Der Müll, die Stadt und der Tod herausgearbeitet wird.

Die argumentative Unbestimmtheit, in die sich das großangelegte Suchmanöver nach antisemitischen Momenten in der Lin­ken verflüchtigt, spiegelt die Unbestimmt­heit des Begriffs »linker Antisemitismus« wider. Historisch entwickelte sich der Anti­semitismus in enger Verbindung mit Kon­servativismus und Nationalismus (19) »als Gegenbewegung zur starken, noch revolu­tionär gesonnenen Sozialdemokratie und gegen den Klassenkampf« (90) und wider­spricht damit den Fundamenten der Lin­ken, also Internationalismus, Klassenbezug und Antikolonialismus. »Der Antisemitis­mus negiert den antagonistischen Klassen­kampf nicht nur, sondern bietet eine andere, quer zum Klassenkampf stehende Gemeinschaft an.« (275). Es herrscht bereits rein begrifflich ein Widerspruch, wenn dem Antisemitismus pauschal das Prädikat »links« beigestellt wird, ohne die genauen historischen Umstände zu berücksichtigen. So setzt etwa Gerhard Hanloser die unter Stalin erfolgte Rehabilitation des russisch-zaristischen Volksantisemitismus in Ver­bindung zur damit einhergehenden Hin­wendung zum Nationalismus und Imperia­lismus der Sowjetunion, nicht aber ohne darauf hinzuweisen, dass der Widerstand gegen die russische Revolution seinerseits stark antisemitisch motiviert war (34f). Es geht dem Sammelband daher nicht um die blinde Verteidigung antisemitischer Momente in der Linken – derer es verein­zelte gibt, wobei die Existenz eines syste­matischen Antisemitismus innerhalb der Linken explizit verneint wird –, sondern darum, Antisemitismus als Herrschaftsin­strument auszuweisen und in seiner Funk­tion im konkreten politischen Kampf zu erfassen. In diesem Sinne wird etwa die Figur des »selbsthassenden Juden« von Moshe Zuckermann als historischer Brenn­punkt eines Konfliktes innerhalb des Juden­tums, nämlich zwischen orthodoxem anti­zionistischen und säkulärem zionistischen Judentum, begriffen (282); ein innerjüdi­scher Konflikt, der in der polarisierenden Mainstream-Debatte um den Nahostkon­flikt vollständig ignoriert wird, wenn der Staat Israel als unantastbare Spitze der Emanzipation des Judentums stilisiert wird.

So ist es ja exakt jenes ahistorische und dekontextualisierende Denken, jene »Ticketmentalität«, die den Antisemitismus so eindrücklich charakterisiert, sodass eine Strukturähnlichkeit zwischen dem Vorwurf des linken Antisemitismus und dem Antise­mitismus selbst festgestellt werden kann (225). Das Denken in den Kategorien von »Gut« und »Böse« entspricht der undiffe­renzierten – und etwa mit der deutschen Staatsräson in Einklang stehenden – Forde­rung nach bedingungsloser Solidarität mit Israel. In diesem Zusammenhang fungiert der Vorwurf des linken Antisemitismus als Immunisierungsstrategie gegenüber anti­zionistischen Stimmen und folglich als Herrschaftsinstrument – vornehmlich der sog. Antideutschen – im linken Diskurs selbst. Dagegen wird insbesondere von Karin Wetterau die staats- und nationalis­muskritische Dimension des Antizionismus bzw. die ethnopluralistische Dimension des Zionismus betont, also die »fragwürdige Identifizierung von ›Israel als jüdischem Kollektiv‹« (117) aufgezeigt. Gleichzeitig wohnt dieser Gleichsetzung zwischen Anti­zionismus und Antisemitismus bzw. dem Vorwurf, Antizionismus sei nur die Tar­nung antisemitischen Ressentiments, die verschwörerisch-paranoide Behauptung eines eigentlichen Wesens zugrunde, die wiederum Charakteristikum der antisemiti­schen Weltanschauung ist.

Das Anliegen des Sammelbandes besteht darin, erstens die Existenz eines strukturel­len Antisemitismus innerhalb der Linken bzw. eines besonderen linken Antisemitis­mus zu verneinen. Daraus folgt auch zwei­tens, jene theoretischen Versuche, den Anti­semitismus als bloß »verkürzte Kapitalis­muskritik« zu erklären, zurückzuweisen. Der dahingehend prominenteste Versuch wurde von Moishe Postone unternommen. Nach diesem würde die »kapitalistische Produktionsweise […] in fetischisierter Form als Gegensatz zweier scheinbar vonei­nander trennbarer Sphären erscheinen, als Sphäre des Konkreten und als Sphäre des Abstrakten« (261), wobei der Antisemitis­mus die Sphäre des Abstrakten mit »dem Judentum« gleichsetze. Antisemitismus entspringe also nicht lediglich der willkür­lichen Trennung in »raffendes« und »schaf­fendes« Kapital, wobei die raffende Finanz­kapitalseite als »jüdisch« betrachtet wird, sondern einem ideologischen Verblen­dungszusammenhang, in welchem den Menschen die Herrschaft das Kapitals als Abstraktum, als undurchschaubare Macht erscheine (270). Diese werde, gerade weil sie selbst nicht zu begreifen sei, auf das Judentum projiziert. Karl Reitter macht nun darauf aufmerksam, dass der Marxsche Fetischbegriff nicht auf dem Gegensatz von abstrakt und konkret, sondern »auf dem Gegensatz von privat und gesellschaftlich« (264) beruht und soziale Herrschaft nicht abstrakt, sondern ganz im Gegenteil »kon­kret erfahren [wird]« (270). »Faschistischer ›Antikapitalismus‹ verleugnet die realen Erfahrungen der Herrschaft und will die Erinnerung an real stattgefundene Kämpfe auslöschen« (ebd.), will diese also nicht – wie Postone nahelegt – durch Auslagerung auf »die Juden« erklärbar machen. Drittens zeigt der Sammelband eine enge Beziehung zwischen Antisemitismus und dem Vorwurf des Antisemitismus in Struktur und Funk­tion auf und argumentiert viertens gegen den Begriff »linker Antisemitismus« auf­grund seiner inneren Widersprüchlichkeit.

Fraglich bleibt allerdings, ob Ilse Bindseil im letzten Aufsatz »Antisemitismus als Beute der Intellektuellen« den Sammelband nicht in einen performativen Widerspruch verstrickt, wenn darin einerseits die Geschichte und Gegenwart linken Antise­mitismus und linker Antisemitismustheorie rekonstruiert und kritisiert wird, um zum Schluss eben dieses theoretische Unterfan­gen als »Beute der Intellektuellen« (291) zu verwerfen. Bindseil schreibt, die Antisemitismustheorie habe den Antisemitismus »in ein Rätsel ver­wandelt« (292); anstatt »die eigene Ohnmacht in karge Worte zu fassen«, habe sie »das Ungeheuerliche des nazistischen Vernichtungspro­gramms in einer ungeheuerlichen theoretischen Konstruktion [abgebil­det]« (298). Der Versuch einer ver­nünftigen Bestimmung eines Gegen­standes – des Antisemitismus oder seiner radikalsten Realisierung im Holocaust – ist aber ganz und gar nicht im Sinne einer »Bemächtigung« (293) des Gegenstandes bzw. einer Aufhebung dieses Gegenstandes zu verstehen, die »sein verleugnendes Moment hervor[kehrt]« (293) und »verewigt« (298). Die vernünftige Bestimmung eines Gegenstandes ist auch kein bloßes »[W]egerklären« (293). Die theoretische Aufhebung ist vielmehr eine Aufhebung auf eine höhere oder wenigstens andere Ebene, auf der die theoretische Erkenntnis des Gegenstandes – also die Funktionsweise des Antisemitis­mus und des Vorwurfes des Antisemi­tismus – in dessen praktische Ableh­nung umschlägt. Theoretische Erkenntnis konserviert nicht, son­dern ist immer schon auch praktische Urteilsbildung und Kritik und in die­sem Sinne Ausgangspunkt für eine Umwälzung der Verhältnisse.

Gerhard Hanloser (Hg.), Linker Antisemitismus? mandelbaum Verlag 2020, Wien/Berlin, 304 Seiten, 22,00 Euro

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