Türkei: Parlamentarismus oder Demokratie? Karl Reitter Orig. Foto: Patrickneil CC BY-SA 3.0 / Wikipedia
19 Juli

Türkei: Parlamentarismus oder Demokratie?

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Ob an den Gerüchten, Erdoğan selbst habe den Putsch inszenieren lassen, etwas dran sein kann, ist nicht seriös zu beantworten. Die Anschuldigungen, der in den USA lebende einflussreiche islamische Prediger Fethullah Gülen stünde hinter dem Umsturzversuch, klingen jedenfalls nicht allzu glaubwürdig. Fakt ist, dass Erdoğan dieses Ereignis als Anlass nimmt, die letzten Reste von Rechtsstaatlichkeit auszuhebeln. Ein Fünftel aller Richter sollen abgesetzt, unliebsame Personen aus dem Staatsapparat entfernt, jegliche noch so zaghafte Opposition egal welcher religiösen oder politischen Orientierung, endgültig zerschlagen werden. Soweit, so allgemein bekannt.

Die Situation ist jedoch weitaus besorgniserregender, als es die meisten Kommentare vermuten lassen. Erdoğan kann sich nämlich nicht nur auf einen zunehmend willfährigen Staatsapparat stützen, sondern auch auf eine blindwütige Anhängerschaft, die Massenpartei AKP. Mit den Ausdrücken Faschismus oder faschistisch sollen wir sehr sorgsam umgehen. Aber ein autoritärer Führer, eine gleichgeschaltete Justiz und Polizei und vor allem ein fanatischer Massenanhang, das ist eine Mischung die geradezu nötigt, von faschistoiden Tendenzen zu sprechen.

Aber, so der bürgerliche Mainstream, war der Militärputsch nicht doch gegen die Demokratie gerichtet? Müssen wir, trotz aller Kritik am autoritären Vorgehen Erdoğans, nicht irgendwie das Überleben der Demokratie in der Türkei begrüßen? So können wir es in fast allen Gazetten lesen, so tönt es aus Radio und TV. Aber was ist Demokratie? Im herrschenden Bewusstsein wird Demokratie schlichtweg mit Parlamentarismus gleichgesetzt. Ein Land, in dem die politische Herrschaft durch Wahlen – sei es direkt, sei es indirekt – legitimiert wird, gilt als Demokratie. Wo dieses Legitimationsverfahren nicht existiert, als Diktatur. Aber Demokratie ist etwas anderes und viel mehr als Parlamentarismus, als periodisches Wählen, um sich nach dem Urnengang der so legitimierten politischen Herrschaft unterordnen zu müssen.

Demokratie bedeutet tatsächlich Ausübung von Macht, sei es in der Fabrik, im Büro, auf der Universität oder im Stadtteil. Demokratie bedeutet Bestimmung der Verhältnisse durch die davon Betroffenen. Der Parlamentarismus ist anderen Formen der Legitimation von politischer Macht vorzuziehen, das steht außer Zweifel. Die Errungenschaften eines gesitteten Parlamentarismus, ein Rechtsstaat, der seinen Namen verdient, und allgemeine, freie Wahlen, wurden hart erkämpft. Aber Parlamentarismus ist noch lange nicht die Verwirklichung der Demokratie. Um den Parlamentarismus zu verteidigen bedarf es mehr als der Niederschlagung eines Putsches, es bedarf tatsächlich demokratischer Verhältnisse. Je mehr wahrhaft demokratische Ansätze in Fabriken, Stadtteilen, Universitäten usw. entstehen, desto eher kann ein gesitteter Parlamentarismus, also ein Parlamentarismus ohne Einschüchterung, Wahlfälschung und Rechtsbeugung, stabilisiert werden. Erdoğan und seine AKP-Schergen ersticken jegliche demokratische Ansätze, nicht zuletzt in den kurdischen Gebieten. Doch das ist nur der erste Schritt, um letztlich auch den Parlamentarismus auszuhebeln. Oder können wir darauf vertrauen, dass sich Erdoğan so einfach durch parlamentarische Wahlen zu seinen Ungunsten von der Macht verdrängen lassen würde?

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