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VON DR. MARTINA WITTELS

Zu Beginn der Pandemie wurden wir belächelt, als wir mit FFP1-Masken auf die Station gingen, um unsere Patientinnen zu versorgen. In einem anderen Gebäude, das einem anderen Spitalsträger zugeordnet ist, sahen wir Beschäftigte mit Masken, die um das Kinn gebunden waren oder an den Ohren baumelten, wenn jemand näher­trat, wurde die Maske mit einer gelang­weilten Mine über den Mund geschoben, oben hing die Nase heraus, als hätten sie vergessen, den Hosenschlitz zu schlie­ßen. Nach kurzer Zeit waren mehrere Pflegekräfte und einige Patientinnen Covid positiv getestet. Ein paar Alte star­ben. Erst da verstand man langsam, dass es Ernst war mit der Pandemie. Die Mas­ken wurden nun korrekt getragen. Es gab zwar nur einen Mundnasenschutz, der weder Träger noch deren Gegenüber ausreichend schützt, aber FFP1- oder FFP2-Masken gab es zu wenige, und so wurde der Einsatz der qualitativ minder­wertigen Masken mit den Empfehlungen des NHS (National Health Services) von England, eines der totgespartesten Gesundheitssysteme, gerechtfertigt.

Wir schauten erschüttert nach Italien, hörten und sahen unsere weinenden Kollegen und Kolleginnen, wie sie berichteten, dass sie älteren Personen wertvolle Therapien verweigern muss­ten, da die wenigen Intensivbetten belegt und den Jüngeren vorbehalten waren. Ab wann? Ab 60 Jahren, ab 70, ab 80 Jahren? Ab welchem Alter wird es keine Therapie mehr geben, wenn gewählt werden muss? In den letzten 2020-Wochen kann es auch in Österreich so weit kommen, dass alle verfügbaren Intensivbetten vergeben sein werden.

Aufgrund von drohendem Personal­mangel wurde jetzt beschlossen, dass medizinisches Personal, auch wenn es Covid positiv getestet ist, unter bestimmten Bedingungen arbeiten soll. Doch man hörte von einer gemeinsamen Arbeit, bei der eine Covid positive Kolle­gin einer bis dahin gesunden Kollegin, beide mit Masken, ein paar Stunden gegenüber stand. Nach wenigen Tagen war die Kollegin infiziert, schmeckte und roch nichts mehr.

Einer gesunden 45-jährigen Kärntne­rin ohne jede Vorerkrankung mussten, um Covid zu überleben, Lungen trans­planiert werden. Ein 69-jähriger sport ­licher und gesunder Arzt ist trotz zwei­wöchiger Beatmung und bester intensiv­medizinischer Betreuung an Covid gestorben. Haben wir wirklich geglaubt, dass die Luft zwischen den Gasthausti­schen stagniert und wie eine Art Spiral­nebel nur um uns selbst kreist? Kein Tracken und Tracen konnte behilflich sein, die wichtigen Infektionscluster auf­zuspüren und die Zahlen in eine ordent­liche Statistik zu pressen.

Mittlerweile wird medizinisches Per­sonal abberufen, umverteilt, damit es zur Verfügung stehe, wenn auch jene, die es bis heute nicht glauben wollen, dass Corona existiert, eingeliefert wer­den. Am 18. Oktober wurde in Varese, Lombardei, eine Messe gelesen für die 179 toten Ärztinnen und Ärzte, die durch ihre Arbeit am Krankenbett an Covid 19 verstorben sind.

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Kinder und Jugendliche, Heranwachsende sind durch Corona-Maßnahmen in einem besonderen Umfang betroffen. STEFAN JUNKER versucht zu erkunden, wo die besonderen Herausforderungen für sie liegen.

Am heftigsten trifft es immer die Schwa­chen, und das sind im Zusammenhang mit dem Virenstamm SARS-CoV-2 die Kin­der. Besonders Kinder von Familien, die in der Corona-Krise stark belastet sind, sei es wegen der Überlastung von Homeoffice und Homeschooling oder aufgrund von Existenzängsten ihrer Eltern, erleben nun eine gefährliche Extremsituation, die sich in einer posttraumatischen Belastungsstö­rung äußern kann. Ähnlich ergeht es Ein­zelkindern, die stark unter der Einsamkeit leiden. Trotz dieser offenkundigen Pro­blemlagen gibt es bis dato keine Untersu­chungen über die Auswirkungen der beschönigend so genannten Hygieneregeln auf Kinder, weder zu den körperlichen noch zu den möglicherweise gravierende­ren seelischen Folgen.

Der besondere Druck, unter dem Kinder stehen, wurde mir mit einer eigentlich harmlosen Szene in der U-Bahn bewusst. Ein wohl fünf Jahre altes Mädchen schrie: »Ich will nicht älter werden, ich will keine Maske«, während ihr die Mutter eine Maske überzog und sie dabei nicht laut, aber bestimmt anherrschte: »Gewöhn dich schon mal dran!« Dies zu einer Zeit als von einem zweiten Lockdown noch nicht die Rede war. Der Vorfall prägte sich mir ein und ich dachte, was hier geschehe, da meine Freunde und ich in diesem Alter immer älter sein wollten, als wir waren. Im Internet fand ich den Brief eines Kindes, worin es sich entschuldigt, die Maske abgenommen zu haben, es wollte nur Luft holen.

Jede und jeder kann bestätigen, wie viel schwerer es sich hinter einer Maske atmet, weshalb es geringer Vorstellungskraft bedarf, sich die größere Anstrengung bei Kindern auszumalen. Bei ihnen ist die Atem­muskulatur noch nicht fertig ausgebildet und Kinder haben an ihrer Größe gemessen einen höheren Atembedarf als Erwachsene. Gerade bei den verbreiteten Stoffmasken gibt es große Unterschiede im Atemwider­stand und ich fürchte, dass nicht wenige Eltern aus Unwissenheit bei ihrer Kaufent­scheidung nicht darauf achten. Inzwischen gibt es eine Reihe von Hinweisen, die als Symptome längeren Maskentragens zu gel­ten haben, unter denen vor allem Kinder lei­den. Dazu zählen vermehrte Kopfschmer­zen, Schwindel, Bauchschmerzen, Müdig­keit, behinderte Lernfähigkeit, Sehstörun­gen (Flimmern), Rauschen in den Ohren, Herzklopfen, Schweißattacken, Orientie­rungslosigkeit, hoher Puls, eine häufige Beschwerde bei Kindern ist der Ausruf: »Ich krieg keine Luft!« Mehrfach nachgewiesen ist, dass der CO2-Gehalt unter der Maske die arbeitsschutzrechtlichen Bestimmungen überschreitet.

Nicht wenige Schulen verlangen, die Maske auch während des Unterrichts zu tra­gen. Dabei erkranken Kinder und Jugendli­che weitaus seltener an Covid-19, weshalb die Corona-Regeln bei ihnen am wenigsten Sinn ergeben. Im Gegenteil, diese Vorschrif­ten, die zum Teil sehr rigide ausgelegt wer­den, untersagen den Kindern, was für ihre Entwicklung am Wichtigsten ist: körper ­licher Kontakt und soziale Erfahrungen. Hinzu kommt der Dauerstress, dem sie in den Schulen nicht erst seit Covid-19 ausge­setzt sind, der aber insbesondere durch das Maskentragen massiv verstärkt wird. Über­eifrige SchuldirektorInnen und LehrerInnen überschütten Mädchen und Jungen mit zahlreichen strengen Verhaltensregeln in Schulen und Kindergärten. SchülerInnen wird verboten, sich ins eigene Gesicht zu fassen – machen wir uns nur die Störung eines einfachen Juckreizes bewusst – oder Gegenstände mit anderen zu teilen. Solda­tisch diszipliniert sollen sie unter ihren Masken in markierten Bahnen durchs Schulgebäude marschieren, während die LehrerInnen über das Einhalten der Regeln wachen. Die Kinder müssen feststellen, dass es in ihrer gesamten Schulzeit noch nie so wenig um Lerninhalte ging wie jetzt – statt­dessen stehen Verhaltenskontrolle und autoritäre Rollenmuster im Vordergrund. Sicherlich, diese Beschreibungen treffen nicht auf alle schulischen Einrichtungen zu und SchuldirektorInnen wie LehrerInnen haben gegen die Bestimmungen demons­triert, trotzdem geben diese Berichte Grund zur Sorge.

Die Betriebskrankenkasse Pronova BKK befragte 150 niedergelassene Kinderärzt ­Innen zu den körperlichen und seelischen Folgen der Corona-Maßnahmen. 89 Prozent der KinderärztInnen beobachten vermehrt psychische Probleme, 37 Prozent diagnosti­zieren eine Zunahme körperlicher Beschwerden. Jede_r zweite Kinderarzt/-ärztin berichtet von zunehmenden Verhal­tensänderungen wie Antriebslosigkeit, Reizbarkeit und Angststörungen. Der Lock­down könnte demnach auch langfristige Folgen haben: Knapp 40 Prozent der Ärzte und Ärztinnen erkannten Anzeichen für motorische und geistige Entwicklungsver­zögerungen bei ihren PatientInnen zwi­schen drei und 13 Jahren. All diese Berichte nähren die Vermutung, dass eine ganze Generation traumatischen Erfahrungen ausgesetzt wird. Die Masken bedeuten eine Störung der sozialen Entwicklung, da Kin­der an der Mimik der Erwachsenen lernen, die sie nicht mehr interpretieren können. Soziale Erfahrungen wie Würde, Respekt, Mitgefühl oder Anstand werden durch mas­kierte Kontakte mit fehlender Mimik mas­siv behindert. Es stellen sich Angststörun­gen ein und Überforderung durch die ihnen aufgebürdeten Verhaltensregeln. Weiter sind Schlafstörungen und Verhaltensstö­rungen wie Waschzwänge zu nennen. Eine menschliche Berührung ist für viele zur Bedrohung geworden! Das hat verheerende Folgen für die gesamte Beziehungsentwick­lung und das Beziehungsverständnis der Kinder und Jugendlichen. Bindungsstörun­gen liegen auf der Hand, aber auch das gesamte psychoimmunologische System ist davon betroffen. In diesem Zusammenhang berichtet Prof. Dr. Christian Schubert: »Das verpflichtende Tragen von Atemschutz­masken in der Schule steht symbolisch für die Gefahr einer tödlichen Virusinfektion. Daher ist die MNS mit ständiger Angst ver­bunden, sein eigenes Leben wie auch das der anderen zu gefährden. Kinder und Jugendliche laufen Gefahr, in ihrer ganz­heitlichen Entwicklung behindert, Angst und Stress ausgesetzt und traumatisiert zu werden, sie können später an schweren Folgeerkrankungen erkranken.« Laut einer Studie fanden ForscherInnen bei etwa 30 Prozent der Kinder aus Familien, die im Zuge anderer Viren wie zum Beispiel der Schweinegrippe in Quarantäne gehen mussten, Symptome einer posttraumati­schen Belastungsstörung.

Noch eine weitere Folge darf nicht über­sehen werden: Die Lockdowns und andere Corona-Maßnahmen haben in der häusli­chen Enge gewalttätige und sexuelle Über­griffe gegen Jungen und Mädchen ver­stärkt. So berichtet der Kinderarzt Dr. Oli­ver Berthold aus dem Nachbarland: »Wir werden teilweise wegen Verletzungen kon­taktiert, die sonst nur bei Zusammenstößen mit Autos auftreten. Da geht es um Kno­chenbrüche oder Schütteltraumata.« Im Mai vervierfachten sich die Anrufe bei der Kinderschutzhotline. Betroffen sind vor allem Kleinstkinder. Dass häusliche Gewalt in Krisensituationen zunimmt, ist durch eine Vielzahl an Studien längst belegt und bekannt. Auch ohne Corona stand dieses Thema zu wenig im Vordergrund. Wir spre­chen von geschätzt mehreren 100.000 Kin­dern, die alljährlich in Deutschland schwe­rer und wiederholter physischer, seelischer und sexueller Gewalt ausgesetzt sind, eine Situation, welche die Corona-Maßnahmen massiv verschärft hat.

Stefan Junker ist Politikwis­senschaftler und arbeitet an einem Buch zur Marxschen Staatstheorie.

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Von Judith Klemenc

Freitag, 5./6. Stunde Die Fenster zu. Es ziehe zu sehr.

27 Schüler:innen der 8. Klasse im Zeichen­saal. Meine Bitte, zumindest einen Spalt ... Das Sprechen mit Maske, das Euphorisieren mit Maske, das Ideen-Geben mit Maske … Maskenbildnerin wäre auch eine Möglich­keit.

Sonntag, 22.00 Die Mail von der Klassenvorständin: Ein Schüler wurde positiv getestet, die Schüler:innen bleiben heute und morgen daheim.

Donnerstag, 16.00

Eine weitere Mail: Vier weitere Schüler: innen wurden positiv getestet, alle Lehrer: innen, die die Schüler:innen am Mittwoch und Donnerstag unterrichteten, sind für zehn Tage in Quarantäne, ebenso die Schü­ler:innen.

Inzwischen die Tirol-Meldung: Oberstufe – Distance-Learning, außer die Maturaklas­sen: Schichtbetrieb.

Die Herbstferien. Den Rest kennen wir. Was wir nicht kennen, ist die Situation in den Klassen. Die Notwendigkeiten. Die Kin­der, die untereinander und miteinander. Die auch gegeneinander. Die eine hustet. Der andere schreit: Die hat Corona. Sie, die zurückschreit: Nein, ich habe keines. Die zu ihm rennt. Nach dem Unterricht. Die Stiegen runter, ihn festhält und schreit: Du mobbst mich. Er, der zurückschreit: Du greifst mich an. Die beiden schreiend auf der Stiege. Die Mädchen, die zu ihr halten. Der mobbt. Genau. Das Sprechen mit beiden im unteren Stockwerk: Husten heißt nicht gleich Corona. Wenn jemand Abstand will, gilt es das zu berücksichtigen.

Das Ende der Herbstferien naht. Die Zahlen steigen. Der Lockdown in Aussicht. Maximal sechs Menschen an einem Tisch. Maximal zwei Haushalte.

Würde ich voll unterrichten, hätte ich elf Mal ca. 30 Haushalte in einem Raum. Die Tische sind nicht einen Meter getrennt. Dazu ist der Raum zu klein. Und zu viele Kinder, um den Abstand permanent einzuhalten. Halb habe ich sechs Mal ca. 30 Schüler:innen in einem Raum, weniger in den Maturaklasse: also fünf.

Sonntag

Ich habe mich verkühlt. Nebenhöhlen. Kein Fieber. Kein Husten. Das stündliche Messen. Das Verrückt-Werden am helllichten Tag. Die Entscheidung. Für drei Tage kein Unterrich­ten. Zu schwach. Die Meldung an den Adminis­trator. Das Wissen, dass andere Kolleg:innen für mich einspringen müssen. Das schlechte Gewissen. Das auf den Magen drückt.

Mittwoch

Das Aufwachen in der Nacht. Schweißgebadet. Die Schmerzen. Kein Auge mehr zu. Das Hören auf die Lunge. Vielleicht die. Die Schmerzen unerträglich. Die Intensivstation vor dem geis­tigen Auge.

Donnerstag

Die Ärztin: akute Gastritis. Nein, die Lunge ist in Ordnung. Keine Symptome von Covid. Mich nicht krank zu machen. Auch wenn ich Aller­gikerin bin. Sie habe viele Covid-Patient:innen. Alle mit leichtem Verlauf. Selbst ihre 99-Jährige hat nur einen Schnupfen. Wir müs­sen damit leben. Absolute Diät und Pantoloc.

Brei. Brei. Brei.

Ein Brei aus Covid, ansteigenden Zahlen, Haferschleim, Reis, alles leicht verdaulich. Unverdaulich. Diese Angstmacherei. Diese täglichen Zahlen. Dieser Anschlag. Diese Wahlen.

Judith Klemenc ist Lehrerin und Performance-Künstlerin in Innsbruck. Sie schrieb zuletzt in der Volks­stimme 2020-7/8 über »Das eigentliche Leben«.

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Mit welcher Macht ein Virus in der Lage ist, das weltpolitische Geschehen auf den Kopf zu stellen, zeigt sich anhand der Covid-19-Pandemie. Womit haben wir es zu tun? Und was tun?

VON ROLAND STEIXNER

Die Erkenntnisse über die Auswirkun­gen einer Infektion mit dem SARS-CoV-2 auf den menschlichen Körper sind erwartungsgemäß vorläufig und unvoll­ständig. Allein in Hinblick auf Infektions­sterblichkeit besteht noch Unklarheit. Eine von zahlreichen Fachleuten kriti­sierte Studie von Ioannidis beziffert sie mit 0,23 Prozent, die Heinsberg-Studie mit 0,37 Prozent, Drosten nimmt hinge­gen eine Infektionssterblichkeit von etwa ein Prozent für Deutschland an. Trotz der hohen Schwankungsbreite bei der ange­nommenen Infektionssterblichkeit steht eines fest: Die Infektionssterblichkeit übertrifft mit Sicherheit die der saison­alen Influenza, die häufig mit 0,1 Prozent oder weniger beziffert wird.

Corona schlägt Grippe als Todesursache haushoch

Es scheint ein Politikum zu sein, einen Bodycount zwischen der saisonalen Grippe und Covid-19 zu betreiben. Dazu ist eines voraus zu schicken: Verglichen werden dabei üblicherweise laborbestä­tigte Covid-19-Fälle mit geschätzten Zahlen für die saisonale Grippe, die aus der gesteigerten Sterblichkeit während der Grippewellen ermittelt werden. Damit haben wir es mit einem Vergleich von Äpfeln mit Birnen zu tun. Lässt man sich darauf ein, so zeigt sich für Österreich, dass die Anzahl der innerhalb der letzten zehn Monate verstorbenen Menschen in etwa dem durchschnittlichen Ausmaß der saisonalen Grippe entspricht. Sieht man über den nationalen Tellerrand hinaus, wird deutlich, dass Covid-19 dort, wo das Virus richtig zuschlägt, weitaus tödlicher ist als die saisonale Grippe und sogar die heftigsten Grippewellen der letzten Jahre deutlich übertrifft. Das lässt sich anhand der Sterblichkeitsstatistiken – wie etwa Euromomo – jederzeit nachvollziehen. Die WHO schätzt die Grippetoten weltweit jährlich auf 290.000 bis 650.000. Die Zahlen des Dashboards der Johns Hopkins Univer­sity wiesen hingegen für Anfang November bereits 1,2 Millionen Covid-19-Tote aus. Dadurch steht schon jetzt fest: Im Jahr 2020 werden deutlich mehr Menschen an Covid-19 gestorben sein als an Influenza. Nicht berücksichtigt dabei wird eine Dun­kelziffer, die notwendigerweise anzuneh­men ist, da erst später festgestellt wurde, dass SARS-CoV-2 nicht nur eine atypische Lungenentzündung hervorrufen, sondern sämtliche Gefäße angreifen kann, sodass auch Schlaganfälle und Herzinfarkte als typische Todesfolgen dieser Virusinfektion erkannt wurden.

Die Frage, ob die Toten »an« oder »mit« Corona gestorben seien, ist nichts anderes als ein Sophismus. So stellte sich etwa bei einer Obduktion von 154 verstorbenen Covid-19-Patient*innen heraus, dass die Virusinfektion für mehr als 80 Prozent der Todesfälle als alleinige oder vorrangige Todesursache verantwortlich war. Demge­genüber ist aber bei der saisonalen Influ­enza auch nicht immer klar, wer »an« und wer »mit« der Grippe stirbt. Wie man es auch dreht und wendet: Covid-19 schlägt die saisonale Influenza. Es gibt weitaus töd­lichere und weitaus ansteckendere Krank­heiten. Das Problem ist jedoch, dass es keine Impfung gibt und dieses Virus auf eine Bevölkerung trifft, die zu einem wesentlichen Teil keine Immunität dagegen besitzt.

Dieses Virus ist dazu in der Lage, das Gesundheitswesen massiv zu überlasten, wenn es sich unkontrolliert verbreitet. Dies hat sich an mehreren Orten der Welt bereits gezeigt. Das ist für die gefährlich, die nicht an Covid-19 erkrankt sind, son­dern aus anderen Gründen eine intensiv­medizinische Behandlung brauchen. Ein besser aufgestelltes Gesundheitssystem kann dem Ansturm länger standhalten, ein schlechter aufgestelltes ist schneller über­lastet.

Infektionsschutz und Solidarität – linke Antworten auf die Pandemie

Was folgt daraus für die Linke? Ein funkti­onsfähiges Gesundheitswesen ist ein zen­trales Anliegen der Linken. Gleichzeitig muss sie aber auch die sozialen Folgen die­ser Maßnahmen ansprechen und sich dafür einzusetzen, dass bei einem Shutdown nie­mand im Stich gelassen wird. Ein Lockdown kann verheerend sein wie in Indien, wo unzählige Wanderarbeiter*innen im Stich gelassen wurden, oder solidarisch sein wie in Kuba, das im Umgang nicht nur eine relativ gute Strategie fährt, sondern auch noch mehrmals internationale Solidarität bewiesen hat.

Pandemien kann nur global begegnet werden: durch die Stärkung der WHO, den Aufbau einer flächendeckenden, kostenlo­sen Gesundheitsversorgung auf dem gesamten Erdball und die Vergesellschaf­tung der Produktion von Medikamenten und Impfstoffen. Es ist Aufgabe der Linken, diese Forderung auf die Tagesordnung zu bringen. Die Corona-Pandemie lässt andere Krankheiten freilich nicht verschwinden und Lockdown-Maßnahmen können Folgen haben, die tödlicher sind als die Krankheit selbst. Dennoch darf das eine nicht gegen das andere ausgespielt werden. Es ist mög­lich, ja sogar notwendig, beides zu verbin­den: Armutsbekämpfung und Gesundheits­schutz. Denn ein unkontrollierter, von der Pandemie selbst verursachter Zusammen­bruch von Volkswirtschaften ist noch ver­heerender für diejenigen, die von Armut und Hunger bedroht sind.

Ein solidarischer und bewusster Umgang mit der Krankheit und Bewusstseinsbildung wäre auch eine sinnvolle Alternative zu Zwangsmaßnahmen. Hier kann man aus den Erkenntnissen einer anderen Krankheit lernen: AIDS. Eine autoritäre Seuchenbe­kämpfung war eine ernste Gefahr für die Schwulenbewegung. Es ist der Kooperation von Schwulenbewegung, Gesundheitsäm­tern und Wissenschaft zu verdanken, dass eine HIV-Infektion kein Todesurteil mehr ist und dass einer weiteren Stigmatisierung der sogenannten Risikogruppen entgegen­gewirkt werden konnte. Ähnliches gilt auch für Covid-19. Gerade besonders stigmati­sierten Bevölkerungsgruppen wird die Schuld an der Verbreitung von Covid-19 zugeschoben. Die Folgen sind verheerend für die Betroffenen. Dem kann nur mit den Strategien begegnet werden, die sich schon im Umgang mit AIDS bewährt haben: Indem die Betroffenen und deren Interes­sensvertretungen an der Eindämmung der Krankheit mitwirken. Wenn die Linke das Sprachrohr der »Verdammten dieser Erde« sein will, dann nimmt sie Corona ernst und fordert gleichzeitig, dass das, was alle zu dessen Eindämmung tun sollen, auch alle tun können, ohne unterzugehen.

Karl Reitter hat in der vergangenen Aus­gabe der Volksstimme mehr Maßnahmenkri­tik »von links« postuliert. Ohne auf alle von ihm genannten Punkte detailliert einzuge­hen, geht es mir darum, einige seiner pro­blematischen Behauptungen zurechtzurü­cken. Das Virus macht sich zudem mittler­weile auch in Österreich bei den Hospitali­sierungsraten deutlich bemerkbar. Freilich ist es nicht Aufgabe der Linken, den herr­schenden medialen Diskurs kritiklos zu übernehmen. Zugeständnisse an diejeni­gen, die die Pandemie bagatellisieren und inhaltlich falsche Maßnahmenkritik üben, verbieten sich jedoch von selbst. Das Wort »Panikmache« ist zum Kampfbegriff der Corona-Leugner-Szene geworden und ver­dient es, zum Unwort des Jahres 2020 gewählt zu werden. Seine Verwendung ist daher indiskutabel.

Maske und Co. werden uns wohl noch länger begleiten. Anstatt dagegen aus irra­tionalen Gründen zu protestieren, sollten wir das Beste daraus machen. Als Acces­soire auf Demos ist die Maske nicht mehr wegzudenken. Wer hätte vor einem Jahr daran gedacht, dass eine Vermummung während einer Kundgebung mit Infektions­schutzmaßnahmen begründbar wäre?

Roland Steixner, Mit­glied der Landesleitung der KPÖ-Tirol und Ersatzgemeinderat und Wohnbausprecher der Alternativen Liste Inns­bruck (ALI), Betriebsrat der G4S-Tirol/Vorarl­berg, Mitglied der Lan­deskontrolle des ÖGB-Tirol. Linguist und Lati­nist

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Corona – ein Virus, das auch die Umverteilungspandemie von Arbeit und Reichtum beschleunigt.

VON HEIDI AMBROSCH

Ich schreibe diesen Text Anfang Novem­ber. Im Kopf die mich beunruhigenden, steigenden Infektionszahlen, die nächtli­chen Bilder zweier durchgeknallter Amok­läufer, einer in Wien und einer im Weißen Haus, trotz Bidens Sieg.

Dass ich zwei Redaktionsmitgliedern ver­sprochen habe, diesen Artikel zu schreiben, hilft mir, alles im Kopf zu sortieren, und ich beginne mit dem Blick zurück auf »Über«-Lebensbedingungen aller in Österreich Arbeitenden vor der Corona-Zeit.

Aus meinen Lebenserfahrungen habe ich den Weg des Widerstandes gegen Unge­rechtigkeiten gewählt. Prekarität weibli­cher Lebenszusammenhänge konnte ich erst in den 1980er Jahren begrifflich fassen. In dieser Zeit meine ich auch, Peter Weiss verstanden zu haben: »Wenn wir uns nicht selbst befreien, bleibt es für uns ohne Fol­gen.«

Die Prekarisierung der Lebensverhältnisse

… hat längst auch männliche Biographien erfasst, und nur deswegen ist diese Beschreibung auch in männliche Theorie­produktion eingeflossen als wesentlicher Teil neoliberaler Politik und konzernge­steuerter Strategie. Sie wird durch die Corona-Pandemie eine weitere Zuspitzung erfahren, nicht zuletzt auch hinsichtlich der Geschlechterverhältnisse.

Geschlechtsneutral fasse ich hier vorerst zusammen:

Prekarisierung bedeutet: die Zurichtung von Märkten und Menschen für den globa­lisierten Kapitalismus mit den Zielen dere­gulierter Erwerbsmärkte mit flexibilisier­ter, verbilligter Lohnarbeit, Entkoppelung sozialer Sicherheit von Lohnarbeit, Abbau und Privatisierung wohlfahrtsstaatlicher Leistungen. Diese Gleichzeitigkeit von ungeschützter, kurzfristiger, nicht exis­tenzsichernder Beschäftigung oder tempo­rärer Erwerbslosigkeit und die Segmentie­rung oder der Zerfall sozialer Rückfallposi­tionen, Auffangnetze und öffentlicher Güter erzeugen Verunsicherung und Ver­einzelung und führen zur weiteren Diszipli­nierung der Menschen hin zur »Ich-AG« – »Eigenverantwortung« und Selbstmanage­ment.

Prekarisierung bedeutet Individualisie­rung und Konkurrenz, mangelnde Ressour­cen wie Zeit oder Geld, Scham und vor allem auch das Fehlen gemeinsamer Orte jenseits der traditionellen Räume kollekti­ver Interessensvertretung. Angesichts der Zunahme von Homeoffice sollten wir das stärker im Blick haben. Auch wenn sich die Situation der Entsicherung von Arbeit und Leben für immer mehr Menschen gleicht, wird sie von jedem und jeder anders wahr­genommen. Gefühle der Wut und der Ohn­macht ebenso wie die Bewältigungsstrate­gien verbleiben auf der individuellen Ebene.

Wessen Interessen werden damit bedient oder: »Wär’ ich nicht arm, wärst du nicht reich«

Auch wenn es Versprechen von Banken und Versicherungen gibt, »lass dein Geld arbeiten«, sollten wir spätestens durch die Finanzkrisen gelernt haben, dass die damit verbundenen Spekulationen ganz schnell auch als Blasen zerplatzen können, weil Geld nicht arbeitet! Die Einkommen von Frauen lassen hier wenig »Spiel«raum.

Medial vermittelt wird die Botschaft: Ret­ten wir »die Wirtschaft«, die »Arbeit schafft«.

Mit »die Wirtschaft« sind Kapitalunterneh­men gemeint, die sich Arbeitskraft und -zeit privat aneignen und nur einen Teil ihrer Profite, des erzeugten Mehrwertes davon als Lohn auszahlen, der andere immer größer werdende Teil fließt in die Taschen der Manager und Aktionäre und deren Finanzspekulationen. (Auch wenn Frauen hier mitgemeint sind, will ich sie als Minderheit der Profiteure im patriarchalen Kapitalismus nicht anführen). Die private Aneignung von Mehrwert erfolgt aber auch über die gesellschaftlich notwendige, aber nicht entlohnte Reproduktionsarbeit insbe­sondere von Frauen und Migrantinnen.

Insbesondere auch in den Debatten um das bedingungslose Grundeinkommen zeigt sich, dass es auch unter Linken noch immer kein gemeinsames Verständnis des Arbeits­begriffes gibt, was den einseitigen Blick auf die Arbeiterklasse, die in ihrer Mehrheit weiblich ist und die Nichtbeachtung femi­nistischer Theorien und Praxen zur Folge hat. Es fehlt der Blick auf alle gesamtgesell­schaftlich notwendige Arbeit als letztend­lich einzige Kraft, die Reichtum im Sinne der Mehrwertproduktion direkt oder indi­rekt schafft.

Als lohnenswerte Lektüre, um den Arbeitsbegriff in unseren Köpfen zu verän­dern, empfehle ich einen Text von Frigga Haug: »Herrschaft als Knoten denken«1. Ich denke, er ist eine treffliche Zusammenfas­sung über die neoliberale Ausprägung des patriarchalen Kapitalismus und zeigt eine Vision möglichen, eingreifenden Handelns.

Drohender Jobverlust und keine Aussicht auf wertende Entlohnung

In den ersten Wochen der Corona-Pande­mie wurde ein Teil der mehrheitlich von Frauen geleisteten Erwerbsarbeit als Ver­käuferinnen, Reinigungskräfte, Kranken­schwestern, als Pflegende beklatscht. Ein­zelne Hunderter wurden einmalig und auch nicht von allen Unternehmen im Handel ausbezahlt, die gewerkschaftliche, herbstli­che Kniebeuge, gerade mal die Inflations­rate an Erhöhung verhandelt zu haben – ein Hohn. Und immer wieder aufs Neue die Warnung vorm Pflegenotstand, eine ent­sprechende Entlohnung und damit Aufwer­tung des Berufes bleibt aus.

In einer Presseaussendung der Arbeiter­kammer wird anhand einer internationalen Studie von ForscherInnen dreier Universi­täten bilanziert:

»Im Gegensatz zur Finanzkrise vor zehn Jahren, bei der mehr Männer als Frauen ihren Arbeitsplatz verloren haben, sind nun besonders typische ›Frauen-Branchen‹ gefährdet, wie etwa die Gastronomie oder der Reisesektor. ›Verlieren Frauen ihren Job, besteht die Gefahr, dass sie die gesamte Haushalts- und Familienarbeit übernehmen und unsere Gesellschaft in Sachen Geschlechtergerechtigkeit wieder zurück­fällt‹, warnt AK-Frauenreferentin Berna­dette Pöcheim. Dann fiele auch der Wieder­einstieg in die Arbeitswelt wieder schwe­rer. Besonders hart trifft die derzeitige Doppelbelastung von reduziertem Kinder­betreuungsangebot und Erwerbsarbeit, aber auch die angespannte Situation am Arbeitsmarkt, die österreichischen Allein­erzieherinnen, von denen jetzt schon 44 Prozent als armutsgefährdet gelten. […] ›Die zuvor weit verbreitete Illusion, dass sich das Homeoffice mit gleichzeitiger Kin­derbetreuung in den eigenen vier Wänden vereinbaren ließe, sollte nach den Erfah­rungen der vergangenen Wochen niemand mehr haben. Aber vielleicht können Pend­lerinnen und Pendler mit regelmäßigen Homeoffice-Tagen so manche Wegstrecke einsparen oder es lassen sich einzelne Arbeitseinheiten auf Tageszeiten verlegen, in denen der Partner die Kinderbetreuung übernimmt‹, so Pöcheims Hoffnung.«

Femme Fiscal hat ein feministisches Kon­junkturpaket auf den Tisch gelegt, in dem es um handfeste Zahlen geht, die Details finden sich hier: Http://zwanzigtausend­frauen.at/ und da kann man es auch unter­schreiben.

Gefordert werden insgesamt zwölf Milli­arden Euro, davon fünf Milliarden für ein Zukunfts- & Bildungspaket u.a. zur Finan zierung einer Erhöhung der Familienbei­hilfe, einer gleichen für alle, unabhängig vom Wohnort der Kinder statt dem Famili­enbonus, der sich als Steuergeschenk für die wohlhabenden Männer entpuppt hat. Vier Milliarden für ein Pflegepaket durch die Verdoppelung der öffentlichen Ausgaben, um u.a. auch die Löhne entsprechend anhe­ben zu können.

Ein einmaliger Corona-Lastenausgleich auf hohe Vermögen würde auf fünf Jahre berechnet 70 bis 80 Milliarden Euro einbrin­gen. Allein die Erhöhung des Anteils von vermögensbezogenen Steuern am Bruttoin­landsprodukt auf OECD-Durchschnitt würde rund sechs Milliarden Euro, eine progressive Besteuerung von Unternehmensgewinnen rund 2,4 Milliarden Euro jährlich einbrin­gen, rechnet Femme Fiscal vor.

Aber es geht nicht nur um ein gerechteres Stück vom Kuchen, letztlich muss es um die ganze Bäckerei gehen, sprich um eine grundlegende Kritik am neoliberal und patriarchal geprägten Kapitalismus.

Kehren wir zurück zu Marx und Engels

Die Vision von Marx und Engels war, dass es durch die industrielle Entwicklung möglich sein muss, die notwendige Erwerbsarbeits­zeit zurückzudrängen, sodass insgesamt und in der gesamtgesellschaftlichen Entwick­lung für alle Menschen mehr Zeit für Selbst­erfahrung und dafür bleibt, kulturelle und menschliche Wesenskraft zu entwickeln. Aber kapitalistisch organisiert, führt die »Ökonomie der Zeit«, wie Marx es im Kapi­tal Band 2 nennt, zur Vertiefung der Spal­tung in der Gesellschaft. Nicht »Zeit für menschliche Entwicklung«, sondern »Öko­nomie der Zeit« wird eingesetzt, um damit die Profite zu erhöhen. Alles, was nicht beschleunigbar, automatisierbar, rationali­sierbar ist und eben nicht genug Profit abwirft und dadurch auch nicht marktför­mig bearbeitet werden kann, muss aber den­noch von Menschen erledigt werden oder die Sache geht ein.

Die im kommunistischen Manifest enthal­tene, fundamentale Kritik an der bürgerli­chen Familie wurde in der Folge in der wei­teren marxistischen Auseinandersetzung ausgeblendet bzw. auf die Forderung »Recht auf Arbeit« – gemeint männlich-zentrierte Lohnarbeit – reduziert. Der Blick auf die Reproduktionsverhältnisse, auf alle gesell­schaftlich notwendige Arbeit kam erst durch die feministischen Bewegungen Ende der 1960er Jahre ins Gespräch, bleibt aber bis heute geheimnisvoll. Der Kampf um Arbeitsrechte übersah über hundert Jahre lang auch die Tatsache, dass Frauen um ein Drittel weniger verdienen, obwohl sie zwei Drittel der gesellschaftlich notwendigen Arbeit leisten.

Zeit für menschliche Entwicklung – Fazit – Empört euch – Reden wir darüber

In diesem Sinne ist die Arbeit von Frauen in den Blick zu nehmen. Denn nicht die Arbeit wird weniger, sondern ihre Bezahlung, sofern es überhaupt eine gibt.

Kurzfristige, wie aus dem Nichts entstan­dene, freiwerdende Budgetmittel verzögern individuelle katastrophale Insolvenzen, aber die Flut von Rückzahlungsaufforde­rungen wie bei Mietvereinbarungen, Kredi­ten etc. werden uns schnell einholen.

Mehr denn je müssen Arbeit und Leben zusammengedacht werden, um Handlungs­orientierungen zu entwickeln: Was ist für uns ein »erfülltes Leben«?

Warum steigen Aktienkurse in Coronazei­ten? Warum gibt es keine Regulierung der Finanzmärkte?

Wem nützt das Finanzkapital? Warum können 1 Prozent der Weltbevölkerung ihre Interessen gegen 99 Prozent durchset­zen?

Können wir das Soziale und die Solidari­tät gemeinsam neu erfinden und konstru­ieren? Lassen sich Arbeits- und Lebens­verhältnisse demokratisieren bzw. wieder aneignen, auch jenseits des Lohnarbeits­konzepts? Und müssen wir nicht neue Orte schaffen, soziale Zentren, in denen Arbeitslose und prekär Beschäftigte sich austauschen, gegenseitig stärken, Kon­takte vermitteln und Netzwerke aufbauen können?

Heidi Ambrosch ist die frauenpolitische Spre­cherin der KPÖ, arbei­tet für transform! Europe, engagiert sich auf der Plattform 20000frauen und schreibt regelmäßig in der Volksstimme und anderen Publikationen.

1 www.zeitschrift-luxemburg.de/herrschaft-als-knoten-denken/

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Gedanken von HELGA WOLFGRUBER

»Wenn die Wahrheit bei irgendjemand auf Erden zu finden ist, dann ganz bestimmt nicht bei Menschen, die behaupten, sie zu besitzen.«

Albert Camus

An diesen Satz von Camus habe ich in den letzten Wochen oft denken müssen. Vor allem dann, wenn meine Gedanken und Gefühle im Dickicht der täglichen Berichter­stattung die Orientierung verloren haben. Corona-ExpertInnen verschiedener Fachrich­tungen verteidigen unermüdlich ihre unter­schiedlichen Wahrheiten, kämpfen um die besseren Argumente, sprechen einander die Richtigkeit ihrer Aussagen ab und erzeugen Ratlosigkeit. Und Politik erschwert das Ertra­genmüssen pandemischer Ungewissheiten durch eine angsterzeugende Rhetorik.

Corona ist ein Ersatzschlachtfeld, von dem der Neurobiologe Gerald Hüther meint, wir würden auf ihm kämpfen, weil »wir es nicht mehr aushalten, dass wir auf allen anderen Problemfeldern nicht mehr weiterkommen«. Vom neoliberalen Dogma des Wachstums­wahns und dessen zerstörerischen Folgen scheint nicht nur Ökonomie und individuelle Lebensweise infiziert zu sein, sondern auch der Covid 19 Virus selbst. Auch dessen Wachstumsfreude weist einige ökonomische und ideologische Gewissheiten in die Schran­ken. Es wäre jetzt ein guter Zeitpunkt für eine längst fällige Generalinventur unseres Systems und für einen Paradigmenwechsel unseres Arbeits- und Wirtschaftslebens.

Jenseits der widersprüchlichen Zahlen und Hypothesen gibt es aber einige wenige Gewissheiten, auf die sich merkwürdiger­weise Viele einigen können. Eine davon ist: Einsamkeit nimmt zu!

»Es ist nicht gut, daß der Mensch alleine sei« (Genesis I)

Gereinigt von moralischen, biblischen Impe­rativen wird der Mensch von BiologInnen als »physiologische Frühgeburt« oder auch als »Nesthocker« bezeichnet. Er ist von Geburt an auf fremde Hilfe und Beschützung ange­wiesen. Seine Überlebensfähigkeit ist davon abhängig und macht ihn zwangsläufig zu einem sozialen Wesen. Und als solches ler­nen wir auch die Fähigkeit zum Alleinsein, das Ertragen von Einsamkeit oder sogar das zeitlich begrenzte Genießen von beidem.

Der englische Psychoanalytiker D. W. Win­nicott legt dem Erlernen dieser Fähigkeit die Erfahrung des Kleinkindes »of beeing alone in the presence of the mother/of another« zugrunde. Erst wenn die Bedürfnisse des Kin­des in jeder Hinsicht »gestillt« sind, die Mutter/Bezugsperson aber in ihrer Verfügbar­keit präsent bleibt, vermittelt sie Stabilität und Sicherheit. Die Erfahrung ihrer verläss­lichen Wiederkehr ermöglicht dem Kind durch wiederholte Erfahrung die Verinner­lichung einer vertrauensvollen Beziehungs­figur. BindungstheoretikerInnen leiten aus diesen Erfahrungen auch die spätere Bin­dungs- und Beziehungsfähigkeit ab. Sind diese kindlichen Abhängigkeitserfahrungen vorwiegend von Enttäuschung und Entbeh­rung geprägt, können spätere Trennungen von realen Menschen in zerstörerisches Einsamkeitserleben münden. Das oft zitierte »Urvertrauen« wäre eine wichtige Quelle und Kraftspender für Selbstwirk­samkeit. Und vielleicht auch ein »Möglich­keitsraum«, in dem die Wiederholung kraftraubender Kindheitsmuster durchbro­chen werden kann. Corona-Politik scheint zum Wiederaufleben und Wachstum von Ängsten einzuladen, versagt aber kläglich beim Schaffen vertrauensbildender Maß­nahmen.

Einsam oder gesellig

Einsamkeitskonzepte wurden im Laufe der Jahrhunderte viele entworfen und ranken sich um die Worte Einsamkeit, Alleinsein, Verlassenheit, soziale Marginalisierung oder gesellschaftliche Exklusion. Die Bedeutungen dieser Begriffe überschneiden sich, sind jedoch nicht deckungsgleich. So muss nicht jedem sozialen Rückzug schon ein Einsamkeitsgefühl innewohnen. Eine vorübergehende Verabschiedung von der modernen »Geselligkeitspflicht« (Odo Mar­quard) kann auch emotionaler Erholung dienen, dem Kraftschöpfen für Kreatives Platz geben oder auch das Bekanntwerden mit »sich selbst« ermöglichen. Auch dazu wurden Stimmen während des ersten Lock­downs laut. Tief empfunden kann Einsam­keit sogar ein Stimulus für die Aufnahme von Beziehungen sein oder umgekehrt den Ausstieg aus einem Leben in »Einsamkeit zu zweit« einläuten. Oder sie kann den Rück­zug aus einer Gruppe bedeuten, in der die Vorstellung von Dazugehörigkeit und Sinn­findung nicht erfüllt wird.

Für Gerald Hüther sind es zwei Mensch­heitsbedürfnisse, deren Nichtbefriedigung gerade jetzt Ängste auslösen und Schaden sowohl für das Individuum als auch für die Gesellschaft bedeuten können. Das eine wäre der Wunsch nach Verbundenheit mit Anderen – Hartmut Rosa würde von Reso­nanzerfahrung reden –, das andere der Wunsch nach Freiheit und autonomer Selbstbestimmung. In diesem Spannungs­verhältnis sehe ich zunehmende Rebellion und Demonstration gegen derzeitige staat­liche Maßnahmen und individuelle Ein­schränkungen angesiedelt. Diktaturfant­asien und Verschwörungsideen befeuern diesen Kampf gegen einen Außenfeind und binden diffuse Ängste. »Unbefriedigende Befriedigung«: Ich gehöre zu einer Gruppe (der GegnerInnen) und ich mache meine eigenen Regeln (z. B. Mundschutzverweige­rung). Warum sich auch Linke an diesem Kampf beteiligen, kann ich nicht nachvoll­ziehen. Sind diejenigen GenossInnen, die sich jetzt gegen die Corona-Politik aufleh­nen, dieselben, die Chinas brachiale, frei­heitseinschränkende, aber effiziente Maß­nahmen loben?

Einsamkeitsverstärker Innen und Außen

Die Versuchung ist groß, die Ursachen für die Vereinsamung entweder nur in der psy­chischen Innenwelt zu suchen, wie es viele PsychotherapeutInnen tun, oder aber nur in den äußeren Verhältnissen, wie es viele KapitalismuskritikerInnen postulieren. Die Realität aber ist komplizierter und dialek­tisch: so beschrieb auch Pierre Bourdieu »die Spuren des Außen im Herzen des Innen«. Und dieses geformte Innen-Verän­dernde gibt dem Außen seine neue Gestalt. Anders, so glaube ich, lässt sich Verände­rung schwer denken.

Aktuelle Belastungen durch die Pandemie hinterlassen neue, schmerzliche Spuren des Außen nicht nur in der Psyche des Men­schen. Karl Marx und Sigmund Freud waren die »Meisterdenker« des 19. und 20. Jahrhunderts zu psychischer und materieller Realität. Freud konnte die wichtige Rolle der ökonomischen Realität durchaus anerkennen, während Marx die Wichtig­keit »der Traditionen aller toten Geschlechter« betont, die »als Alp auf den Gehirnen der Lebenden« lasten.

Der Alp, der jetzt das Gehirn der Leben­den zermartert und zunehmend auch deren Seelen quält, heißt Virus, ist eine vorgefundene Tatsache, die zeigt, dass sich Menschen von Gewohnheiten und Traditionen, wider jede Vernunft, schwer lösen können. Der Ruf nach einem »Zurück zur Normalität« wird auch von linker Seite lauter und lässt vergessen, dass linke Politik dieser »alten Normali­tät« nie ihre Zustimmung gegeben hat.

Brennglas Krise

Risikofaktoren, auch für die Entstehung von Einsamkeit, sind längst bekannt und beschrieben. Sie werden durch die Krise nur deutlicher sicht- und spürbar. Fällt der Arbeitsplatz als Ort der Begegnung weg, verkleinert sich auch die Möglichkeit für Beziehungsaufnahmen. Ohne Sozial­kontakte, in physisches Alleinsein gedrängt zu sein, kann für alleinlebende, ältere oder kranke Menschen zu einer trostlosen Erfahrung werden. Hingegen kann das Zusammengesperrtsein von Familien auf engem Raum zum Wunsch nach einem »Ort für sich alleine« führen. Lohn- und Einkommensverlust bedeuten Verlust des Selbstwertes, begünstigen sozialen Rückzug und fördern das Gefühl von Ausgeschlossensein. Und dieses Gefühl bahnt den Weg in die Einsamkeit. Und chronische Einsamkeit bildet den Nährboden für Depression.

Wen aber interessierte vor Corona die Depression vereinsamter Flüchtlinge, die zugleich eingeschlossen und ausgeschlos­sen, ohne Sicherheit und Perspektive auf einer Warteliste stehen? Warum wurde Isolationshaft als gefürchtetste Maß­nahme des Strafvollzugs nicht schon längst als Folter abgeschafft? Waren AlleinerzieherInnen nicht schon vor Corona sozial isoliert und deshalb oft ver­zweifelt? Und wie viele Untersuchungen weisen schon lange auf den Zusammen­hang zwischen materieller Armut und sozialer Exklusion hin?

Auswege, Irrwege

Die derzeitige Situation der Unsicherheiten macht uns vermehrt mit Gefühlen von Machtlosigkeit und Angst bekannt. Das Bedürfnis nach Spannungsreduktion inten­siviert sich, und je nach Persönlichkeits­struktur haben wir unterschiedliche Reak­tionsweisen zur Verfügung: Lähmung, Flucht, Angriff.

Während sich die einen in Ergebenheit an Verordnungen halten und still hoffen, dass ein Impfstoff sie aus einer lähmenden Starre »befreit«, bereiten andere ihre Flucht vor. Corona verändert aber drastisch die Reiseziele. Der Weg führt jetzt in die Gegend von Netflix, sozialen Medien, Arbeit, Alkohol. Im Gegensatz zu echten Urlaubsreisen ist eine Rückkehr hier nicht immer garantiert. Die dritte Möglichkeit wäre der Angriff: auf staatliche Verordnun­gen, Andersdenkende, auf Schwächere. Vielleicht lässt sich Angriff auch positiv verstehen, als angreifen, in die Hand neh­men, um neue Konfliktlösungen für diese neue Situation zu suchen. Denn wenn es jetzt so weiterginge, dann wäre das, nach Walter Benjamin »die eigentliche Katastro­phe«.

Plädoyer für Solidarität

Es hat sich gezeigt, dass in Ausnahmesitua­tionen verbales Katastrophenmitgefühl und praktische Hilfe rasch geleistet werden. Der gemeinsame Einsatz für ein sinnvoll erach­tetes Ziel, das gemeinsame Tun, schafft Verbindlichkeit und macht unser Leben meist sinnvoller. Warum die Bereitschaft zu solidarischem Handeln oft nicht von Dauer ist, erklärt sich schwer. Ist es auch hier die »verordnete« Einsicht in die Not­wendigkeit, die dem Credo der Freiwillig­keit entgegensteht? Das Akzeptieren von Abhängigkeit sowie die Beseitigung von ungleicher Verteilung von Last und Macht wären ein guter Klebstoff für einen überle­benswichtigen Zusammenhalt vieler unter­schiedlicher Menschen. Denn: »No man is an island, entire of itself; every man is a piece of the continent«, diese oft zitierten Zeilen von John Donne drücken auch heute noch die existenzielle Erfahrung von Abhängigkeit voneinander und auch die Verantwortung füreinander aus.

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Einen Operationstermin Mitte Oktober kurz vor den rasant steigenden Covid-Ansteckungszahlen und dem Lockdown bekommen zu haben – welch ein Glücksfall.

EINE MISZELLE VON BÄRBEL DANNEBERG

Das Eintreffen im Landesklinikum Zwettl ist ungewohnt: abgeschirm­ter Eingangsbereich, externes Covid-Personal weist auf maximal eine Begleit­person hin, Maskenpflicht, Händedesin­fektion, Fiebermessen, Fragebögen aus­füllen. Nach den Aufnahmeformalitäten auf der Station: nochmals Fiebermessen, Befragungen, Anamnese, Rachenab­strich, Warten.

Das Pflegepersonal ist erstaunlich gelassen und routiniert im Umgang mit den erschwerten Arbeitsbedingungen. Im Krankenzimmer werden wir vom ein­tretenden Pflegepersonal ermahnt, Mund- und Nasenschutz anzulegen, erst dann nähern sie sich, selbst vermummt und handschuhbestückt, dem Bett.

Im Laufe meines Aufenthaltes erfahre ich, dass im Spital ein Covid-19-Cluster ist. Alle PatientInnen müssen sich noch­mals einem Corona-Test unterziehen. »Im Zusammenhang mit einem Cluster um das Landesklinikum Zwettl in Niederösterreich sind am Freitag 26 mit dem Coronavirus infizierte Personen gemeldet worden«, schreibt die Kronen Zeitung. »Das Büro von Gesundheits ­landesrätin Ulrike Königsberger-Ludwig (SPÖ) verzeichnete zehn angesteckte Patienten und zwei erkrankte Besu­cher …«

»Jetzt steht das auch schon in der Krone«, sagt der Bewegungstherapeut seufzend, der mir das Gehen mit Krücken beibringen soll. Das Dilemma sei, dass die Tests zu lange dauern. »Kommt ein Patient rein, wird er getestet, das Ergeb­nis ist erst am nächsten Tag da. 14 Kolle­ginnen des Pflegepersonals sind infiziert. Und wenn Pflegepersonal ausfällt, müs­sen die anderen die Arbeit machen. Mehr Personal gibt’s nicht«, meint er. Die anstrengende Arbeit mit den Masken oder einem Schutzschild, manche tragen beides, würde Augenentzündungen und Entzündungen des Nasen- und Rachen ­bereichs nach sich ziehen. »Das Personal ist überlastet. So langsam sind wir am Ende unserer Kräfte«, sagt er. Wir wer­den darauf hingewiesen, dass nur eine Besuchsperson pro PatientIn für maximal eine viertel Stunde erlaubt sei.

Diese Zeit droht zum Belastungstest für die Gesundheitseinrichtungen und Lan­desspitäler zu werden. Knapp 400 Covid-PatientInnen mussten Anfang November in diesen Einrichtungen Niederöster­reichs versorgt, mehr als 50 davon inten­sivmedizinisch betreut werden. Betten für den noch bevorstehenden Ansturm müssen freigehalten werden. Meine Spitals-Bettnachbarin, die nach ihrer Knie-OP zur Rehabilitation nach Gmünd überwiesen wurde, schreibt mir, dass sie zehn Tage früher in häusliche Betreuung entlassen wurde, »eine Station um die andere wurde für Covid-Patienten frei ­geräumt.« Ich bin froh, nach gelungener Operation und trotz schwierigster Arbeitsbedingungen optimal betreut und rasch entlassen zu werden. Eine Woche später wäre meine Operation von der Spitalsorganisation wahrscheinlich abge­sagt worden. Andere Menschen, die keine unbedingt lebenserhaltende OP wie ich vor sich haben, müssen warten und mit Schmerzen, der Ungewissheit, mit der Resignation und der Einsamkeit im Lock­down leben.

Das Ende des Corona-Tunnels ist längst nicht in Sicht. Eine Triage-Situation in den Spitälern, also eine Auswahl, welche PatientInnen zuerst hochprofessionelle Hilfe bekommen, wäre eine Katastrophe.

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Die staatlichen Maßnahmen gegen die Ausbreitung von Covid-19 werden auch in der Linken sehr kontrovers diskutiert. Ein Plädoyer für eine mehrdimensionale Sichtweise.

VON KARL REITTER

Nach Monaten der Erfahrung mit Covid-19 lassen sich ernsthafte Aussagen über die Gefährlichkeit des Virus treffen. Die Sterblichkeit ist inzwischen fast auf das Niveau einer Grippe gesunken. »Der Median liegt bei 0,23 Prozent, aber es gibt große regionale Unterschiede«, zitiert Flo­rian Rötzer den international anerkannten Epidemologen John Ioannidis. (Rötzer, tele­polis, 24.10.2020) Der Professor für Allge­meinmedizin an der MedUni Wien, Andreas Sönnichsen, ermittelte auf Basis des amtli­chen Dashboards eine »Infection-Fatality-Rate« (IFR), sprich eine Sterberate »zwi­schen 0,1 % und 0,8 %« (Sönnichsen, 57) Seine Schlussfolgerung: Sars-CoV-2 sei »nicht wesentlich gefährlicher als eine etwas heftigere Grippewelle«. (Sönnichsen, 59) Das Problem liegt weniger in der Gefährlichkeit der Erkrankung, sondern in der Rasanz der Ausbreitung. So trifft eine steigende Zahl von infizierten Personen auf ein neoliberales, kaputt gespartes Gesund­heitssystem, dessen Mängel angesichts der Pandemie nicht mehr zu verschleiern sind. Diese Mängel sind selbst bei ehrlichem poli­tischem Willen kaum in wenigen Wochen zu kompensieren. Daher die Schlussfolge­rung: Es gäbe, schon um den Zusammen­bruch des Gesundheitssystem zu verhin­dern, keine Alternative zu den einschnei­denden staatlichen Maßnahmen. Für man­che ist die Debatte damit schon beendet. Eigentlich beginnt sie erst.

Vermintes Gelände

Anstatt das soeben skizzierte Szenario zum Ausgangspunkt einer dringend nötigen Debatte zu nehmen, wird jede weitere Dis­kussion oftmals demagogisch verunmög­licht. Wer Kritik äußert, ja selbst nur eine sachliche, wissenschaftlich fundierte Debatte einfordert, wird als Corona-Leug­nerIn und VerschwörungstheoretikerIn denunziert. Zu diesem Zweck werden bedeutungslose Mini-Sekten und ihre abs­trusen Vorstellungen zu relevanten gesell­schaftlichen Strömungen aufgeblasen und als repräsentativ für all jene vorgeführt, die eine ruhige, abwägende Debatte einfor­dern. Erfahrene MedizinerInnen und ExpertInnen wie John Ioannidis und Hen­drik Streeck werden medial als verantwor­tungslose Scharlatane vorgeführt. Wer sich kritisch äußert, ist geradezu genötigt, erst­mal einen Eid abzulegen, er oder sie sei keine Corona-LeugnerIn. Ein Beispiel: Rolf Gössner, ein engagierter, linker Anwalt in Deutschland, bekam den Hans-Litten-Preis zugesprochen. In seiner Dankesrede kommt Gössner auch auf Corona zu spre­chen und leitet seine Redepassage mit fol­genden Worten ein: Er würde sich nun auf »ziemlich vermintes Gelände« begeben. Er wusste offenbar, seine Aussagen – wie etwa folgende – können auch in der Linken einen Sturm der Entrüstung hervorrufen: »Es gibt begründete Zweifel an der Ange­messenheit mancher der panikartigen und pauschal verhängten Lockdown-Maßnah­men auf ungesicherter Datenlage.« (Göss­ner, junge Welt, 13.10.2020)

Vom Kleinreden der Folgeschäden

Die Diskussion wird insbesondere dann schwierig, wenn die dramatischen Folge­schäden der Maßnahmen systematisch kleingeredet werden. Man kann die Gefährlichkeit des Virus unterschätzen, man kann aber auch die Folgewirkungen der Einschränkungen unterschätzen, und zwar auf allen Gebieten des sozialen Lebens. Studien weisen auf die dramati­schen gesundheitlichen und psychischen Folgen des Lockdowns hin. (Andreas von Westphalen, telepolis, 12.11.2020) Es ist für mich bedrückend, wie viele Kräfte auch in der Linken diese negativen Folgeschäden nicht wahrhaben wollen oder kleinreden. Selbst die kapitalistische Ökonomie kommt nicht ungeschoren davon. Machen wir uns nichts vor, obwohl die Produktion weiter läuft und alles andere erstickt wird, ver­stärken die Maßnahmen die schwelende Krise der kapitalistischen Ökonomie. Alfred Noll hat das Dilemma des Staates diesbezüglich treffend beschrieben: »Der Covid-19-Staat ist der Würgeengel der kapitalistischen Produktionsweise, indem er Produktion und Konsumtion über weite Strecken verhindert – er macht also exakt das Gegenteil von dem, wozu er geschaffen wurde.« (Noll, 93). Nolls entscheidende These dazu lautet: Die Notwendigkeit, »immer das eine und das andere zugleich machen zu müssen«, kann mit den »übli­chen parlamentarischen Routinen« nicht bewerkstelligt werden. Massive Schädi­gung der Ökonomie verknüpft sich mit weitgehender Suspendierung der Rechts­staatlichkeit. Viele linke Stimmen weisen kritisch darauf hin. Halina Wawzyniak und Udo Wolf schreiben in einem Papier der Rosa Luxemburg Stiftung: »Linke Politik, die aus der Geschichte gelernt hat, darf Frei­heitsrechte nicht geringschätzen. […] Ohne Freiheitsrechte lässt sich gesell­schaftlicher Fortschritt nicht erstreiten und auch keine sozial gerechte Politik. Die Würde des Einzelnen, die nach dem Grund­gesetz unantastbar ist, beinhaltet, dass der Mensch nicht zum reinen Objekt staatli­chen Handelns gemacht werden darf.« Der Parteigenosse von Wawzyniak und Wolf, Klaus Lederer, ist anderer Meinung und plädiert für den Ausnahmenzustand: »Die begrenzte Außerkraftsetzung von Grund­rechten ist angesichts der Bedrohung für Menschenleben nicht nur legitim, sondern notwendig.« (Lederer, Neues Deutschland, 13.10.2020) Der Aufschrei aus der Linken blieb aus.

Von Schuldzuweisungen auf Basis absurder Annahmen

Stattdessen passiert etwas sehr Problema­tisches. Normalerweise weisen vernünftig und besonnen denkende Menschen Schuldzuweisungen an bestimmte Perso­nengruppen mit guten Argumenten zurück. Weder die Jüdinnen und Juden, die MigrantInnen, die Muslima noch die Erwerbsarbeitslosen usw. sind am Übel der Welt schuld. Bei Corona wird anders argu­mentiert: Aus Angst und Frust werden Sündenböcke gesucht und drakonische Strafen gefordert. Nun seien es die unver­antwortlichen HedonistInnen, die die Aus­breitung des Virus weiter ermöglichen. Um es unmissverständlich und klar zu sagen: Zu meinen, wenn wir uns alle nur richtig verhalten würden, würde Covid-19 aus der Welt verschwinden, ist eine unver­antwortliche Wahnidee. Keine Frage, ent­sprechendes Verhalten kann wohl die Aus­breitung bremsen, aber kein denkbares Verhalten kann Covid-19 ein für alle Mal aus der Welt schaffen. Es müssten schon jegliches soziale Leben, jeglicher Kontakt auf Tage, wenn nicht Wochen, vollständig eingestellt werden, und das ohne Aus­nahme, weltweit – eine Unmöglichkeit. Selbst wenn das Virus unter die Wahr­nehmungsschwelle herabgedrückt wer­den würde, könnte es jederzeit umso rascher wieder ausbrechen. Wie sich das Virus tatsächlich ausbreitet, wissen wir kaum. Die Cluster-Analyse der staatli­chen Agentur AGES weist »Haushalt« zu 67 Prozent als Infektionsherd aus, aber wie kommt Covid-19 in die Familien? (Quelle: www.ages.at) »Bürgerinnen und Bürger können nirgendwo nachlesen, ob ein Restaurantbesuch zu zweit gefähr­lich ist; ob sich viele Menschen beim Fri­seur oder Arztbesuch oder zum Beispiel in Aufenthaltsräumen oder Meetings am Arbeitsplatz angesteckt haben.« (Stan­dard, 1.11.2020) An die Stelle wissen­schaftlich fundierter Erkenntnisse tre­ten Phantasien über die Verbreitungs­wege des Virus. Der Hass gegen die Uneinsichtigen hat auch eine soziale Dimension: »Während die unterprivile­gierten Massen nun dem Staat miss­trauen, sind es die privilegierten linksli­beralen und postmaterialistischen Ober­schichten und Eliten, die dem Staat täg­lich die Mauer machen und ihn immer wieder dazu anfeuern, gegen ungestüme und uneinsichtige Massen vehement durchzugreifen.« (Heinzlmaier, 245)

Hoffen auf die Erlösung?

Der Erlöser heißt 2020 nicht Jesus, son­dern »Die Impfung«. Wenn überhaupt, beruht der rationale Kern der aktuellen Maßnahmen auf der Hoffnung, spätes­tens im Frühjahr 2021 gäbe es einen Impfstoff. Und was ist, wenn nicht? Zweifellos konnten Infektionskrankhei­ten tatsächlich ausgerottet werden, etwa die Pocken. Gegen andere Infektions­krankheiten wie Malaria, HIV und Hepa­titis C gibt es bis dato keine Impfung und es scheint auch keine in Sicht. Nun erreichen uns Pressemeldungen aus den Hauptquartieren der Pharmafirmen Pfi­zer und BioNTech, sie hätten bereits den Impfstoff BNT162b2 entwickelt, der bald einsatzbereit wäre. Viele medizinische Fragen sind offen, aber es gibt in jedem Fall GewinnerInnen. Allein Pfizer-Chef Albert Bourla machte innerhalb von Tagen durch Verkauf seiner Aktien 5,6 Millionen US-Dollar Gewinn (Rötzer, telepolis, 12.10.2020). Angesichts jüngster Erfahrungen mit Pharmafirmen ist jeden­falls Skepsis angebracht. 2009 wurde durch die WHO die Schweinegrippe-Pandemie ausgerufen, deren Gefährlichkeit völlig überschätzt wurde. Die Infektionskrank­heit wurde mit dem rasch entwickelten Impfstoff Pandemrix bekämpft, mit dra­matischen Folgen. »Insbesondere in Schweden kam es in Folge der H1N1-Imp­fung mit dem Impfstoff Pandemrix in meh­reren hundert Fällen zu unheilbaren Nebenwirkungen der Narkolepsie (Schlaf­krankheit), von der vor allem Kinder und Jugendliche betroffen waren.« (Hunko, 50) Ein Großteil der Medikamente wurde des­wegen vernichtet, die Kosten betrugen 30 Milliarden Euro. Aber das Starren auf die Entwicklung von Impfstoffen provo­ziert eine weitere Frage: kein Interesse an Medikamenten?

Erstaunlicherweise ist von der Entwick­lung wirksamer Medikamente gegen Covid-19 nirgendwo die Rede. Krankheiten durch Impfungen zu verhindern ist eine Sache, eine andere, sie mit Medikamenten zu lindern und zu heilen. Gegen AIDS gibt es keine Impfung, aber wirksame Medika­mente haben der Krankheit ihren Schre­cken genommen. Wieso gibt es offenbar so wenig Interesse an der Entwicklung von Medikamenten gegen Covid-19? Wieso ist das schlichtweg kein Thema? Liegt es am Profitinteresse der Pharmafirmen? Derzeit würden wirksame Medikamente gegen Covid-19 hierzulande wohl nur einigen tausenden Menschen verabreicht werden. Zu impfen sind aber hunderte Millionen … Die Debatte ist eröffnet.

Quellenangaben: Um den Text nicht mit Fußnoten zu überlasten, wurde nur Name, Medium und Datum angegeben. Die Quelle ist so leicht zu recherchieren. Namen mit Seitenzahlen verweisen auf Texte im Sammelband Lockdown 2020, der im Promedia-Verlag erschienen ist. Zitiert wird aus den Texten: Alfred Noll, Seuchenzeit: der Staat als ideeller Gesamtkapitalist; Bernhard Heinzlmaier, Jugendliche als Betroffene der Corona-Pandemie; Andrej Hunko, WHO – Wer bestimmt, was gesund ist?, Andreas Sönnichsen, Covid-19: Wo ist die Evi­denz?

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Die Corona-Pandemie verdeutlicht, dass Jahrzehnte neoliberaler Hegemonie auch an der UNO-Weltgesundheitsorganisation Schaden gelassen haben. Eine grundlegende Reform ist notwendig.

VON ANDREJ HUNKO

In der Corona-Pandemie zeigen sich viele strukturelle Probleme wie unter dem Brennglas. Seien es die prekären Arbeitsbe­dingungen in der Krankenpflege, die Abhängigkeit von Marktmechanismen bei der Beschaffung essenzieller medizinischer Güter oder die mangelhafte multilaterale Kooperation in Zeiten der Krise: auf viele Bereiche trifft diese Beobachtung zu. So auch für eine Institution, die gerade in die­sen Zeiten von herausragender Bedeutung ist: Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) der Vereinten Nationen. Wie andere inter­nationale Organisationen steht auch die WHO seit Langem unter Druck, sich der wachsenden Macht privater AkteurInnen zu öffnen. Das Jahr 1993 war ein Meilen­stein in dieser Entwicklung. Die USA unter George Bush setzten eine Einfrierung der Pflichtbeiträge der Mitgliedsstaaten durch. Dadurch wurde das schon in den 1980er Jahren eingeführte reale Nullwachstum durch ein nominelles ersetzt.1 Inflations­schwankungen wurden forthin nicht mehr ausgeglichen. Seitdem sinkt der Haushalt alljährlich real, also inflationsbereinigt. In die so organisierte Finanzierungslücke tra­ten zunehmend freiwillige, programmge­bundene Beiträge. Ergebnis dieser Entwick­lung ist, dass die WHO sich heute nur noch zu etwa 20 Prozent aus regulären, frei ver­fügbaren Mitgliedsbeiträgen finanziert. Etwa 70 Prozent der Mittel sind zweckge­bunden.

Soziale Faktoren vernachlässigt

Hauptproblem: Bei »freiwilligen Beiträgen« bestimmen die GeberInnen über die Ver­wendung. Die sozialen Determinanten von Gesundheit, also Wohn- und Arbeitsver­hältnisse, gesunde Ernährung und Zugang zu sauberem Trinkwasser, die in der Geschichte der WHO durchaus eine Rolle gespielt hatten, treten zugunsten rein kurativ-medizinischer Faktoren – also ver­marktbare Medikamente und Impfstoffe – immer mehr in den Hintergrund.

So bewegte sich die WHO gerade von jenen Grundprinzipien weg, die sie zu einer zivilisatorischen Errungenschaft gemacht hatten. Zwar erreichte die WHO durch Imp­fungen viel – als größte Leistungen gelten zu Recht die Ausrottung der Pocken und die weitgehende Eliminierung der Poliomy­elitis (Kinderlähmung). Der erklärte Zweck der 1948 parallel zu den Vereinten Natio­nen geründeten Organisation liegt aller­dings darin, allen Völkern zur Erreichung des bestmöglichen Gesundheitszustandes zu verhelfen. In der wegweisenden Erklä­rung von Alma-Ata aus dem Jahr 1978 defi­nierten die Mitgliedsstaaten Gesundheit als »Zustand von vollständigem physischen, geistigen und sozialen Wohlbefinden, der sich nicht nur durch die Abwesenheit von Krankheit oder Behinderung auszeichnet«. Dabei wurden auch soziale und ökonomi­sche Aspekte betont, die Voraussetzungen für das Erreichen dieses Ziels sind. Bedau­erlicherweise sind diese Aspekte zuneh­mend in den Hintergrund gedrängt wor­den. Auch in der gegenwärtigen Frage der Strategien gegen Covid-19 werden diese relevanten sozialen Faktoren weitgehend ausgeblendet.

Beschäftigt man sich mit der Entwicklung der WHO und ihrer Finanzierung, drängt sich zwangsweise ein Name in den Vorder­grund: Bill Gates. Die Stiftung des Micro­soft-Gründers und seiner Frau Melinda gibt nach eigenen Angaben jährlich vier Milliar­den US-Dollar aus. 2016/2017 gingen davon zusammen 629 Millionen an die WHO. Damit war die Gates-Stiftung mit gut zehn Prozent des Gesamthaushalts der Organisa­tion zweitgrößte Einzelspenderin. Sollte der WHO-Austritt der USA Bestand haben, wird die Stiftung zum größten Einzelfinan­cier der WHO. Bis zur überwiegend eindi­mensionalen Berichterstattung im Zuge des Corona-Lockdowns ab Mitte März 2020 konnte man in deutschsprachigen Medien durchaus Kritisches zu diesem Missver­hältnis lesen. Ein Deutschlandfunk-Beitrag vom Juli 2018 hatte beispielsweise den Titel »Unabhängigkeit der Weltgesund­heitsorganisation gefährdet – Was gesund ist, bestimmt Bill Gates«. Als jedoch eben dieses Thema zunehmend bei Corona-Pro­testen prominent und teils zu Verschwö­rungsphantasien überdehnt wurde, die Bill Gates die heimliche Weltherrschaft andichteten, drehte sich der Wind. Am 7. Mai, kurz vor dem Höhepunkt der ers­ten Welle der Proteste in Deutschland, wurde der Titel nachträglich »präzisiert« und hieß fortan »Das Dilemma der WHO«. Dabei ist ein kritischer Blick auf die WHO heute wichtiger denn je. Das bedeutet nicht, teils abstrusen Theorien das Wort zu reden. Aber weil gerade einmal die »Falschen« durchaus richtige Aspekte der Kritik mit aufgreifen, wäre es fatal, diese nicht weiter zu thematisieren.

Zwangsläufige Interessenskonflikte

Es ist unerheblich, ob man Bill Gates wohltätige oder bösartige Motive unter­stellt. Dass ein einzelner Mensch Kraft sei­nes akkumulierten Kapitals einen solchen Einfluss auf die Weltgesundheit hat, ist mit demokratischen Prinzipien unverein­bar. Es ist auch ein Ergebnis der in der neoliberalen Ära beschleunigten Vermö­genskonzentration. Das Problem dieses obszönen Reichtums liegt ja nicht nur darin, dass der Reichtum der einen die Armut der anderen bedingt. Er kann auch verwendet werden, um die Gesellschaft nach den eigenen Vorstellungen und Inte­ressen zu formen. Und genau das können wir bei der Weltgesundheit beobachten. Fast alle großen Unternehmen unterhal­ten Stiftungen, die natürlich für einen guten Zweck gegründet werden. Dabei geht es jedoch primär darum, Politik und Gesellschaft im Interesse der Stiftungs­gründer zu beeinflussen. Das Kapital der Gates-Stiftung von knapp 50 Milliarden Euro ist in Konzernen wie Coca-Cola, Wal­mart, Monsanto (seit 2018 Teil von Bayer), aber auch in der Rüstungs- und Pharma­branche investiert. So entstehen zwangs­läufig Interessenskonflikte. Denn die Pro­fitinteressen dieser Konzerne widerspre­chen gesundheitspolitischen Zielen fun­damental. So macht die Stiftung auf der einen Seite Gewinne mit Produkten, die Krankheiten wie Diabetes verursachen, an deren Folgen weltweit rund vier Millionen Menschen pro Jahr sterben.

Der Journalist Thomas Kruchem fasste das Dilemma wie folgt zusammen: »Für die Gates-Stiftung heißt dies: Je mehr Profite die genannten Firmen machen, desto mehr Geld kann sie für die WHO ausgeben. Für die WHO heißt es: Mit jeder Maßnahme gegen gesundheitsschädliche Aktivitäten der Süßgetränke-, Alkohol- und Pharmain­dustrie würde die WHO die Gates-Stiftung daran hindern, das Geld zu erwirtschaften, mit dem die Stiftung die WHO finanziert. Kurz, die Weltgesundheitsorganisation steckt in einem klassischen Interessenkon­flikt.«

Der aktuelle Umgang mit der Corona-Pandemie ist auch deshalb so schwierig, weil die WHO bei der letzten Pandemie-Ausrufung vor Corona völlig daneben lag. Die im Vergleich zur jährlichen Grippe­welle relativ milde H1N1-Influenza aus den Jahren 2009 und 2010 (sogenannte Schwei­negrippe) wurde von der WHO zur Pande­mie mit der höchsten der damals gültigen Pandemiestufen erklärt. In der Folge traten in fast allen Mitgliedsstaaten Pandemie-Pläne in Kraft und sie schlossen milliarden­schwere Verträge mit Impfstoffherstellern. Im Ergebnis war die Einstufung der Schwei­negrippe als Pandemie eine gigantische Fehleinschätzung. Die Welt wurde unbe­gründet in Panik versetzt, ein zweistelliger Milliardenbetrag an öffentlichen Mitteln wurde für Impfdosen aktiviert, von denen später ein wesentlicher Teil wieder ver­nichtet werden musste, und viele Men­schen nahmen durch die Impfung Schaden. Vieles deutet darauf hin, dass der Einfluss privater AkteurInnen aus der Pharmain­dustrie in der WHO dabei eine entschei­dende Rolle spielte. In einer Resolution des Europarates vom Juni 2010 heißt es gera­dezu prophetisch: »Die Versammlung befürchtet, dass dieser Mangel an Transpa­renz und Rechenschaftspflicht dazu führen könnte, dass das Vertrauen in die Empfeh­lungen der wichtigsten öffentlichen Gesundheitseinrichtungen sinkt. Das könnte sich bei der nächsten Krankheit von pandemischem Ausmaß (…) als katastro­phal erweisen.« Diese Warnung von 2010 sollte sich zehn Jahre später bewahrheiten. Zwar ist die Corona-Pandemie als ungleich ernsthafter einzuschätzen als die Schwei­negrippe und bedarf international koordi­nierter Maßnahmen. Viele Worst-Case-Sze­narien aus der Anfangszeit der Pandemie haben sich jedoch glücklicherweise als unrealistisch erwiesen.

Reform und Kontrolle

Beachtlich ist, dass die aktuelle Pandemie die Welt weitgehend unvorbereitet traf, obgleich die WHO 2018 vor einer neuen pandemischen »Krankheit X« warnte und etwa der Europarat 2016 auf eine Vorberei­tung auf gesundheitliche Notlagen von internationaler Tragweite drängte. Auch verschiedene nationale Gesundheitsinsti­tute, wie im Jahr 2012 das deutsche Robert-Koch-Institut, legten Pandemieszenarien vor, die zumindest in Deutschland ebenso ignoriert wurden.

Bis Juni riet die WHO vom Massenge­brauch von Masken ab, gleichwohl machten viele Länder ihren Gebrauch in der Öffent­lichkeit zur strafbewehrten Pflicht. Dann änderte die WHO ihre Richtlinien und emp­fahl den Gebrauch in überfüllten öffentli­chen Einrichtungen wie dem Öffentlichen Personennahverkehr. Zugleich warnte sie aber vor einem falschen Gefühl der Sicher­heit. Es ist offensichtlich, dass die WHO in dieser Frage keine Orientierungsinstanz für die Staaten war. In der Frage der Grenz­schließungen war die WHO hingegen von Beginn an klar und riet unmissverständlich davon ab, da diese mehr Schaden als Nut­zen bringen würden. Doch der Appell ver­hallte weitgehend ungehört.

Insgesamt traf die Corona-Pandemie auf eine unvorbereitete Welt. Die wichtigste Gesundheitsorganisation, die WHO, ist stark unterfinanziert und abhängig von privaten AkteurInnen mit ihren eigenen Interessen und Prioritäten. Zu allem Über­fluss wurde ihre Existenz vom neuen geo­politischen Großkonflikt zwischen den USA und China überlagert. Anfang Juli 2020 erklärten die USA ihren Austritt aus der WHO, der am 6. Juli 2021 wirksam werden würde.

Eine grundlegende Reform der WHO ist angezeigt. Im Ende Juni 2020 mit großer Mehrheit angenommenen Corona-Bericht für die Parlamentarische Versammlung des Europarates2 habe ich bezüglich der WHO mehrere Vorschläge auf diesen beiden Ebe­nen gemacht. Kernpunkte sind die Unab­hängigkeit von freiwilligen, zweckgebunde­nen Beiträgen sowie eine wirksame und unabhängige, idealerweise parlamentari­sche Kontrolle der Organisation. Für den ersten Punkt müssten vor allem die Mit­gliedsstaaten ihre Zahlungen massiv auf­stocken. Zumindest auf EU-Ebene scheint sich diese Einsicht teilweise durchzusetzen.

Ob sich eine mögliche Reform in diese Richtung entwickeln lässt, hängt natürlich von vielen Faktoren ab. Nicht zuletzt davon, ob sich gewachsene weltweite Macht profitgetriebener AkteurInnen im Gesundheitswesen zurückdrängen lässt und ob die Welt in den nächsten Jahren über­haupt jene internationale Kooperationsbe­reitschaft entwickelt, die der Etablierung der WHO zu Grunde lag. Dass enorm viel gemacht werden kann, wenn der politische Wille da ist, hat die Reaktion auf die Corona-Pandemie gezeigt. Ob der politische Wille für eine grundlegende Reform der WHO zur Beseitigung der erwähnten Miss­stände bei den aktuellen Entscheidungsträ­gerInnen vorhanden ist, erscheint hinge­gen zweifelhafter.

1 Reddy, S., Mazhar, S. & Lencucha, R. (2018): The financial sus­tainability of the World Health Organization and the political economy of global health governance: a review of funding pro­posals. Global Health 14, https://doi.org/10.1186/s12992-018-0436-8

2 Für die Parlamentarische Versammlung des Europarates war ich Berichterstatter für einen Bericht mit dem Titel »Lehren für die Zukunft aus einer wirksamen und auf Rechte gestütz­ten Reaktion auf die COVID-19-Pandemie«, der am 26. Juni 2020 angenommen wurde, siehe https://pace.coe.int/en/news/7938/covid-19-responding-to-the-next-pandemic-states-should-act-fast-and-comply-with-human-rights

Andrej Hunko ist Bun­destagsabgeordneter in Deutschland für die Partei DIE LINKE. Er ist europapolitischer Spre­cher seiner Fraktion sowie stellvertretender Vorsitzender der Links­fraktionen im Bundes­tag und in der Parla­mentarischen Versamm lung des Europarates.

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