Luan Pertl ist aktiv im Verein Intergeschlechtlicher Menschen Österreich (VIMÖ) Luan Pertl ist aktiv im Verein Intergeschlechtlicher Menschen Österreich (VIMÖ)

»Nichts über uns ohne uns«

von

Luan Pertl über Sichtbarkeit, Anerkennung und Forderungen intergeschlechtlicher Menschen

Inter*Menschen sind weltweit gesellschaftlich kaum sichtbar, denn Intergeschlechtlichkeit ist nach wie vor stark tabuisiert. Aus Angst vor Stigmatisierung und sozialer Ausgrenzung bekennen sich viele Inter* nicht öffentlich zu ihrer Geschlechtlichkeit. Ist sie in seltenen Fällen bekannt, sind sie nicht nur verbaler und struktureller Diskriminierung ausgesetzt. Sie erfahren auch physische Gewalt und lebensbedrohliche Situationen. 

Intergeschlechtliche Menschen werden mit Geschlechtsmerkmalen geboren, die sich unter anderem hinsichtlich der Chromosomen, der Genitalien und/ oder der hormonellen Struktur nicht in die gängigen Kategorien von »männlich« und »weiblich« einordnen lassen oder die zu beiden Kategorien gehören. Häufig raten Ärzt*innen den Eltern, chirurgische und andere medizinische Eingriffe an intergeschlechtlichen Neugeborenen und Kindern vornehmen zu lassen, so dass die Körper der Neugeborenen (scheinbar) den Rahmen entweder männlicher oder weiblicher Geschlechtsmerkmale einhalten. In den meisten Fällen sind solche Eingriffe medizinisch nicht notwendig und können schwere negative Folgen für intergeschlechtliche Kinder in ihrer weiteren Entwicklung haben. 

»Intergeschlechtlich« steht für ein breites Spektrum von Variationen der Geschlechtsmerkmale, die innerhalb der menschlichen Spezies natürlicherweise vorkommen. Es steht auch für die Akzeptanz der physischen Tatsache, dass Geschlecht ein Spektrum ist und dass Menschen mit Variationen in ihren Geschlechtsmerk- malen jenseits‚ entweder männlich oder weiblich‘ existieren. 

Historisch wurde der Begriff »intersexuell« im Sinne einer Störung benutzt, die durch medizinische Eingriffe »repariert« werden müsse. In den vergangenen 20 Jahren wurde der englische Begriff »Intersex« von den Verteidiger*innen der Menschenrechte intergeschlechtlicher Menschen neu definiert und durch sie und ihre Organisationen als menschenrechtskonformer übergeordneter Sammelbegriff etabliert. 

Unsere Geschlechtsmerkmale sind von unserer Geburt an festgelegt, ob wir intergeschlechtlich sind oder nicht. Die Tatsache, dass ein Mensch einen intergeschlechtlichen Körper hat, kann zu unterschiedlichen Zeitpunkten im Leben sichtbar werden: bei der Geburt, während der Kindheit, der Pubertät, selbst noch im Erwachsenenalter. 

Abhängig von der individuellen Lebenssituation und dem Grad an Tabuisierung im persönlichen Umfeld können Menschen sehr früh oder auch erst bedeutend später im Leben entdecken, dass sie einen intergeschlechtlichen Körper haben. Manche intergeschlechtliche Menschen finden nie heraus, dass sie intergeschlechtlich sind.

Der »inter« Geschlechtseintrag in Österreich

Alex Jürgen erhält im Juli 2020 endlich die Geburtsurkunde mit dem Geschlechtseintrag »inter«. 2016 ging Alex Jürgen zum Standesamt Steyr und beantragte eine Berichtigung des Geschlechtseintrags auf eine dritte Kategorie. Alex Jürgen ist intergeschlechtlich und wollte sich in den Identitäts-Dokumenten dementsprechend ausweisen können. Anschließend befassten sich mehrere Höchstgerichte innerhalb von vier Jahren damit, dass es mehr als zwei Geschlechter gibt, und gaben Alex Jürgen Recht.

Trotzdem wurde lange der beschiedene dritte Geschlechtseintrag nicht berichtigt – im Juli 2020, kurz nach Einbringen einer Strafanzeige gegen die zuständigen Behörden, hält Alex Jürgen nun die Geburtsurkunde mit dem Eintrag »inter« in den Händen.

Ich freue mich sehr mit Alex Jürgen über diesen Erfolg, nach so vielen Jahren endlich den richtigen Geschlechtseintrag bekommen zu haben. Doch frage ich mich auch, warum die Ausstellung der Geburtsurkunde mit den korrekten Daten ein so massiver Kraftakt sein muss?

Intergeschlechtliche Menschen gibt es schon immer, wir sind und waren in allen Jahrhunderten vertreten - teilweise sichtbar, teilweise versteckt. Wir waren sogar schon im Gesetz verankert, zum Beispiel mit dem sogenannten »Zwitterparagraph« des Allgemeinen Landrechts für die Preußischen Staaten aus dem Jahr 1794. Dieser gibt über die »Rechte der Zwitter« an:

Es gab damals nur die Option, »weiblich« oder »männlich« zu wählen, doch das Ausschlaggebende daran war die freie Wahl. Diese freie Wahl wurde uns intergeschlechtlichen Menschen genommen, und nicht nur das: wir wurden mit unserem Inter*-Sein auch in ein medizinisches Korrektursystem gezwungen, weil ...

... Ja, das »Weil« ist eine gute Frage, warum eigentlich?

Weil schon immer gerne mit Lebewesen experimentiert wurde?

Weil wir in einer zwanghaften Körpernormierungsgesellschaft leben?

Weil Menschen noch immer glauben, die Medizin ist die Gottheit in Weiß?

Es erscheint mir vollkommen unlogisch, ignorant, menschenverachtend, dass es einen gerichtlichen Prozess von vier Jahren braucht, damit ein Mensch den eigenen Geschlechtseintrag erhält, es ist mir vollkommen unklar, dass ein Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofs (VfGH) nicht konform umgesetzt wird, sondern es eine zusätzliche Strafanzeige braucht, dass ein Mensch seinen eigenen Geschlechtseintrag erhält. Dass ein Innenminister Kickl und sein Nachfolger Nehammer auf einen Erlass pochen, der intergeschlechtliche Menschen wieder in die Abhängigkeit von der Medizin presst, genau von jenen Menschen, die unsere Körper und unsere Seelen zerstört haben.

Das einzige, was wir wollen, ist unser Leben leben zu können, frei von Zwang, von Bevormundung, von Tabuisierung, von medizinischer Gewalt, und unseren Geschlechtseintrag selbstbestimmt wählen zu können, selbst über unsere Körper zu bestimmen.

Forderungen intergeschlechtlicher Menschen

Weg von meiner persönlichen Wut und Enttäuschung nun zu den Forderungen des menschrechtsbasiert arbeitenden Vereins Intergeschlechtlicher Menschen Österreich (VIMÖ)

Gemeinsam mit 64 Organisationen österreichweit hat VIMÖ einen offenen Brief an den jetzigen Innenminister Karl Nehammer geschickt und folgende Forderungen formuliert:

  • Der dritte Geschlechtseintrag soll allen Menschen offenstehen, unabhängig ihrer individuellen körperlichen Geschlechtsmerkmale. Vom VfGH gab es diesbezüglich schon 2009 ein entsprechendes Erkenntnis im Fall einer transgender Person, in dem klargestellt wurde, dass der Geschlechtseintrag die Geschlechtsidentität und nicht körperliche Merkmale repräsentiert.
  • Neben den bisher möglichen Einträgen »weiblich«, »männlich«, »offen« und »divers« muss auch der Eintrag »inter« zur Verfügung stehen.
  • Die Regelung bezüglich eines medizinischen Expert*innenboards (sog. VdG-Board) ist überflüssig und zu streichen - eine Änderung nach Selbstauskunft beim Standesamt muss ausreichen. Das VdG-Board war ursprünglich vom Bundesministerium für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz bzw. der dortigen Arbeitsgruppe für Behandlungsempfehlungen bei VdG als Expertise-Netzwerk für Diagnostik, Beratung und Behandlungsentscheidungen angedacht. Dies sollte auch die Kompetenz des Boards bleiben - die beteiligten Mediziner*innen sollten dagegen nicht plötzlich eine zweckentfremdete Funktion für Personenstandsangelegenheiten ausüben. Darüber hinaus existiert dieses Board de facto nicht - der Erlass verweist auf bloße Kontaktdaten einer (unvollständigen) Liste von Versorgungsstrukturen, und eben nicht auf das sog. VdG-Board.
  • Bürokratische Hürden zur Änderung des persönlichen Geschlechtseintrags müssen abgebaut werden. Gleichzeitig braucht es strenge Datenschutzmodalitäten für frühere Geschlechtseinträge.
  • Der Geschlechtseintrag einer Person muss mehr als einmal gewechselt werden können. Dies soll nicht einem möglichen Missbrauch dienen, sondern der Tatsache Rechnung tragen, dass sich das Empfinden der Geschlechtsidentität im Laufe eines Lebens (Kindheit, Jugend, Erwachsenenalter) verändern kann. Die psychische und physische Entwicklung eines jeden Menschen zeigt sich erst im Aufwachsen, kann unterschiedlich lange dauern und ist nicht vorhersehbar. Bis zur Entscheidung, einen Geschlechtseintrag berichtigen zu lassen, durchlaufen Betroffene in der Regel meist lange persönliche Prozesse.

Dass 64 Organisationen die VIMÖ unterstützen, ist eine tolle Zahl, aber das soll nur ein Anfang sein. Wenn du unterstützen möchtest, egal ob als Organisation, oder Einzelperson, hier ein paar wichtige Punkte:

  • REDE DARÜBER
  • SCHAFFEN SIE EINE SICHERE UMGEBUNG FÜR INTERGESCHLECHTLICHE MENSCHEN
  • INTEGRIEREN SIE DAS »I« IN IHRE ARBEIT
  • UNTERSTÜTZEN SIE INTER*-AKTIVIST_INNEN UND INTER*-NROS
  • »NOTHING ABOUT US WITHOUT US«! - »NICHTS ÜBER UNS OHNE UNS«
  • NUTZEN SIE MENSCHENRECHTSSTANDARDS, -DOKUMENTE und -MECHANISMEN

Ein detailliertes Alliestoolkit findet ihr unter https://oiieurope.org/wp-content/uploads/2017/11/Menschenrechte_intergeschlechtlicher_Menschen_schuetzen.pdf

Für Eltern von intergeschlechtlichen Kindern bietet VIMÖ Beratung und Peerberatung an.

Bist du eine intergeschlechtliche Person, dann melde dich bei VIMÖ für ein Treffen, Beratung, Community Events und vieles mehr.

Kontakt:

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Gelesen 3447 mal Letzte Änderung am Montag, 05 April 2021 07:37
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