TRINKKULTUR: Die wunderbar komplizierte Welt des Biers

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Seit dem Erscheinen des betont innovativen »Craftbiers« wissen wir: ein Märzen ist kein Pils und erst recht kein IPA und schon gar kein Barley Wine.

VON THOMAS ASKAN VIERICH

Jetzt beschäftigen sich auch Archäolog* innen, Soziolog*innen oder Historiker* innen mit dem Wesen des Biers: Warum gibt es das? Was sagt welches Bier über unsere Gesellschaften aus? Ist Saufen böse? Wenn ja, war es das schon immer? Und wer sagt das eigentlich? Einstieg in die Geschichte des Bierbrauens und Biertrin­kens.

Wahrscheinlich hat man die berau­schende Wirkung des Biers, wie so vieles in der Zivilisationsgeschichte, zufällig ent­deckt: Getreidevorräte waren feucht geworden und hatten zu gären begonnen. Als Mutige den Brei kosteten, schmeckte er bescheiden, aber hatte eine ungewohnte Wirkung: er machte lustig.

Das hat sich zwischen Euphrat und Tigris vor etwa 10.000 Jahren bei den Sumerern abgespielt. Parallel entdeckten auch andere Völker und Kulturen die berauschende Wir­kung von fermentierten Früchten und Flüs­sigkeiten. Den Siegeszug rund um die Welt trat das Bier aber von Europa aus an.

Symbolisches Kulturgut

Bier ist ein symbolisch besetztes Kulturgut, in dem sich gesellschaftliche Normen, Rol­len, Machtverhältnisse und technologi­scher Fortschritt spiegeln. Es war – und ist es heute wieder – ein Prestigeprodukt, des­sen Konsum die soziale Stellung der Konsu­ment*in unterstreicht. Das war schon so in der römischen Antike, als man verschie­dene Bierstile und Biertrinker unterschied: Das Weizenbier tranken die Reichen, das gewöhnliche Gerstenbier die breite Bevöl­kerung. Wenn für sie nicht ohnehin der einheimische Wein attraktiver war und gegorener Gerstensaft eigentlich doch nur etwas für Thraker und Barbaren (Germa­nen und Kelten).

Im späteren Mittelalter hatte das Einbe­ckerbier einen besonders guten Ruf auf adeligen Tafeln, es war qualitativ und geschmacklich dem doch eher faden Braun­bier des Volkes überlegen. Heute bezahlen Freunde der Craftbiere für eine Flasche handgemachtes, häufig braunes Bier gerne mehr als zehn Euro aufwärts, während sich im Supermarkt die helle Industrieware in Dosen für die Masse stapelt.

Bier war und ist aber auch ein Gemein­schaftsstifter. Nicht erst heute kommt man auf ein oder mehrere Biere zusammen. Von Beginn an spielte es eine große Rolle in religiösen Riten, oft stand es sogar in deren Zentrum. Der Rausch wurde nicht immer verunglimpft, sondern offen gefei­ert. Bier wurde heilende Wirkung zuge­schrieben und es war ein wichtiges Nah­rungsmittel, das zum Überleben in schwe­ren Zeiten beitrug (nicht nur in Bayern). Die Klöster brauten Bier, weil sie damit ihre Mönche zur Fastenzeit ernähren konnten. Und Bier wurde nicht gebraut, wenn der Bevölkerung auf Grund von Kriegen und Missernten zu wenig Getreide zur Verfügung stand. Aus Gerste wurde und wird Bier hauptsächlich des­halb gebraut, weil es sich weniger gut zum Brotbacken eignet. Brot und Bier standen bei knappen Ressourcen in einem direkten Konkurrenzverhältnis zueinan­der. Das galt noch im 20. Jahrhundert während der großen Kriege, als Nahrung rationiert werden musste. Vor allem war Bier (und ist es noch heute in manchen Weltgegenden) viele Jahrhunderte lang gesünder, weil sauberer, als das sonst zur Verfügung stehende Trinkwasser.

Staatlich geförderter Proleten-Trank

Bier war das Schmierfett der Industriali­sierung, es prägte den Lebensstil einer völlig neuen Bevölkerungsgruppe, dem Proletariat, dem »vierten Stand«. Nach der Arbeit, das heißt, Samstagabend und am freien Sonntag, hatten die Arbeiter* innen oft wenig andere Gelegenheit, ihre Freizeit zu verbringen, als im Gasthaus, der Kneipe. Und dort konnten sie sich wenig anderes leisten als Bier. Wein tran­ken die vornehmen Leute. Andere Rausch­mittel standen nicht zur Verfügung oder waren noch unerschwinglicher. Lediglich der aufkommende billige Branntwein konnte dem Bier Konkurrenz machen – war aber leider noch gesundheitsschädli­cher und verringerte so die Arbeitskraft. Also förderte der Staat im Auftrag der besorgten Arbeitgeber*innen bis ins 20. Jahrhundert das Bierbrauen und den Biergenuss – im Sinne der Volksgesund­heit.

Er tut das heute noch in Russland. Auch Russland ist nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion zu einem Biertrinkerland geworden, weil Bier dort als »gesündere« Alternative zum weitverbreiteten Wodka gefördert wird. Heute gilt es in den russi­schen Metropolen als schick, Bier zu trin­ken, gerne auch einheimisches. Während man auf dem rückständigen Land weiterhin zur Wodkaflasche greift, weil der Suff damit billiger kommt. Auch die Asiaten haben das Biertrinken und vor allem Brauen entdeckt. Der japanische Konzern Asahi (nach ihrem beliebtesten Bier wurde eine auch bei uns bekannte Modemarke benannt: Super Dry) ist heute einer der größten weltweit. In kei­nem anderen Land werden so viele Hektoli­ter Bier gebraut wie in China, wo auch drei der zehn größten Braukonzerne sitzen, die ihr Bier lustiger Weise hauptsächlich in die USA exportieren.

Globaler Biermarkt

Bier war auch deshalb gemeinschaftsstif­tend, weil man es gemeinsam brauen muss, wenn man größere Mengen herstellen möchte. Gutes Bier zu erzeugen und zu lagern, ist durchaus aufwändig. Da kann sehr viel schief gehen. Es braucht die Beschaffung und Lagerung der Grundstoffe, Investitionen in Herstellungsprozesse, Maschinen, Behälter und Lagermöglichkei­ten für das Endprodukt. Und auch Geduld: Man muss das Bier eine Zeitlang in Ruhe lassen (können). Unter den schwierigen Bedingungen der vorindustriellen Arbeits­welt konnte das Bierbrauen, das überwie­gend im eigenen Haus stattfand, oft in der Stadt, nur gemeinschaftlich bewerkstelligt werden. Übrigens lange Zeit überwiegend von Frauen. Später brauchte man viel Geld für Investitionen im großen Maßstab und einen weltweiten Vertrieb und fand sie in Aktienkäufern, später in Fondsgesellschaf­ten. Daher die erdrückende Konzentration des globalen Biermarkts auf wenige Big Player.

Bier war auch eine hervorragende Ein­nahmequelle der jeweiligen Machthaber, denn es konnte einfach besteuert werden oder von ihnen wie das bayerische Weiß­bier in der Frühen Neuzeit als Monopolist gebraut und vertrieben werden. Oder man gründete selbst eigene Brauereien wie die Beijing Yanjing Brewery, die achtgrößte der Welt, oder Budějovický Budvar (Bud­weiser) oder säkularisiert ein Kloster und bekommt so eine Staatsbrauerei (Weihen­stephan). Auch deshalb wurde und wird das Biertrinken und Bierbrauen staatlich geför­dert oder zumindest toleriert. Auch deshalb sind die Bayern und Tschechen noch heute die eifrigsten Bierkonsument*innen. Nicht nur, weil das böhmische (und bayerische) Bier so vorzüglich und vergleichsweise (in Tschechien) schweinebillig ist.

Das Brauen war auch ein Treiber des Fortschritts. Es zwang die prähistorische Landwirtschaft zu mehr Professionalität. Es machte als Handelsgut die mittelalterliche Hanse reich. Der Chef der Münchner Spa­ten-Brauerei Sedlmayr förderte den Erfin­der der Kältemaschine Linde und stellte dessen erste funktionierende in seine Brauerei, um damit den Biermarkt mit dem jetzt massenhaft bei konstant niedrigen Temperaturen produzierbaren untergäri­gen Lagerbier (Märzen, Helles, Pils) zu revolutionieren. Pasteur entdeckte die Arbeitsweise von Mikroben und Hefepilzen bei einer Studie über das Bier. Die dänische Carlsbergbrauerei baute auf der erstmals in ihren Laboratorien isolierten Reinhefe eine Weltkarriere auf.

Hopfen und Malz, Gott erhalt’s

Es gibt viele Mythen rund ums Bier. Hopfen und viele Inhaltsstoffe wie Vitamine, die Hefe oder Antioxidantien im Bier sind tat­sächlich gesund. Leider vermiest der Alko­hol die Gesundheitsbilanz. Und der kann in einem elaborierten Craftbier leicht über zehn Prozent liegen. Dann heißt das Bier nicht umsonst Barley Wine (Gerstenwein). Schmeckt aber trotzdem nicht nach Wein, sondern sehr mächtig, würzig, malzig. Es wird oft auch gelagert wie Wein, nämlich in Fässern, die nach Rum oder Whiskey duf­ten. Das tut das Bier dann (vielleicht) auch. Manche schmecken auch nach Schokolade oder Nüssen oder Bananen oder Kirschen oder Blumen oder Kräutern. Ist das dann überhaupt noch Bier? Der Kenner sagt ja. Der Märzentrinker winkt genervt ab.

Der verlogenste Mythos rund ums Bier ist das so genannte deutsche (ursprünglich bayerische) Reinheitsgebot vom 23. April 1516. Kurzgefasst: Bier habe aus nichts anderem zu bestehen als Gerste, Hopfen und Wasser. Von seinen Verfechtern wird es als erstes Verbraucherschutzgesetz gepriesen. Noch heute begeht die deutsche Brauwirtschaft den 23. April als den »Tag des Deutschen Bieres« (leider ohne Frei­bier). In Wirklichkeit war das Ganze eine Machtdemonstration der geschäftstüchti­gen bayerischen Herzöge, die sich damit unter anderem das Privileg, Bier aus Wei­zen (Weißbier) zu brauen, zugesichert haben. Außerdem darf trotz Reinheitsge­bots bis auf den heutigen Tag so manche Unappetitlichkeit von der Brauindustrie ins »reine« Bier: Hopfenextrakt, Malzextrakt, Kieslgut zum Filtern und Stabilisieren, fei­nes Plastikgranulat (Polyvinylpolypyrroli­don) gegen Eintrübung, Algenmehl, Aktiv­kohle, Enzyme oder radioaktive Strahlung. Das Gebot sollte vor allem auch den bayeri­schen und später deutschen Biermarkt vor Importen schützen.

Das Brau- und Importverbot für »unrei­nes« Bier galt knapp 500 Jahre bis 1987, als der EUGH das Gesetz erstmals kippte. Das war dann auch der etwas verspätete Start­schuss für die Kreativbierszene in Deutsch­land. Andere Länder wie die USA oder Bel­gien waren längst weiter. Jetzt können die Deutschen (und mit ihnen Österreich, weil das Bier oft über deutsche Importeure nach Österreich kommt) auch zu Hause schöne Sachen wie mexikanische Biere aus Reis, belgische Biere mit Kirschen, irische Stouts mit Schokolade, Bier aus Möhren, Kum­quats oder Doughnuts genießen. Gibt’s alles oder hat es zumindest als Experiment gege­ben. Der Gesundheit und der Umwelt scha­det es vermutlich weniger als Polyvinyl ­polypyrrolidon. Prost und bis zum nächs­ten Mal.

Thomas Askan Vierich lebt in Wien, Zürich und Berlin. Redakteur, Magazinmacher und Literatur­kritiker für deutsche und österreichische Medien.

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Gelesen 4111 mal Letzte Änderung am Mittwoch, 02 Dezember 2020 16:41
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