UMSTRUKTURIERUNG DER SOZIALVERSICHERUNG: Pfeifen auf die Verfassung

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Mit dem »Sozialversicherungsorganisationsgesetz« plant die Regierung einen dramatischen Einschnitt in die Grundlagen und Strukturen der österreichischen Sozialversicherung.

Von MICHAEL GRABER

Der österreichische Sozialstaat beruht auf mehreren Säulen. Eine der wesentlichen ist das System der Sozialver­sicherung. Jährlich werden derzeit etwa 60 Milliarden Euro über die Kassen der Sozialversicherung umgesetzt. Davon stammen etwa 50 Mrd. Euro aus den Bei­trägen der Versicherten und 7 Mrd. aus der Ausfallhaftung des Bundes. In die Krankenversicherung gehen 17 Mrd., in die Pensionsversicherung 40 Mrd. und in die Unfallversicherung 1,5 Mrd. Euro. Letztere wird durch eine Senkung der Dienstgeberabgaben um 500 Millionen Euro bereits ausgeräumt.

Im Vergleich dazu beträgt das gesamte Budget des Bundes knapp 80 Mrd. Euro, d. h. die Mittel der Sozialversicherung machen drei Viertel des Bundesbudgets aus. Kein Wunder, dass da Begehrlichkei­ten bestehen, sowohl die der Regierung, hinein zu regieren, als auch die Begehr­lichkeiten privater Versicherungen, sich daraus den einen oder anderen Happen anzueignen. Immerhin hat die größte österreichische private Versicherung einen Vertrauensmann in der Regierung.

Was ist konkret geplant?

Hinter dem Vorhang der Reduzierung der Sozialversicherungsträger von 21 auf fünf will die Regierung die Kräfteverhältnisse in der neu zu bildenden Österreichischen Gesundheitskasse und in der Pensionsver­sicherung nachhaltig zu Gunsten der UnternehmerInnenverbände verändern. Nach außen wird das Argument verbreitet, dass damit zahlreiche »FunktionärInnen« und damit Kosten von einer Milliarde Euro eingespart würden. Das Gegenteil ist der Fall, wie bereits in zahlreichen Stellung­nahmen nachgewiesen wurde. Die Reform könnte in den nächsten Jahren bis zu einer Milliarde Euro kosten, was wiederum zu Lasten der Versicherten gehen würde.

Entscheidend ist, dass in Zukunft in den Gremien der Gesundheitskasse und der Pensionsversicherungsanstalt »Parität« herrschen soll, das heißt zu gleichen Teilen zwischen ArbeitnehmerInnen- und Arbeit­gebervertreterInnen besetzt und damit der bestimmenden Einflussnahme der Vertre­tungen der ArbeiterInnen und Angestell­ten, also der Versicherten, entzogen wer­den soll. Denn bisher hatten die Stimmen der von Arbeiterkammer und Gewerkschaft nominierten VertreterInnen eine klare Mehrheit. Damit wird die verfassungsmä­ßig verbriefte Selbstverwaltung der Versi­cherten und ihrer Beiträge ausgehöhlt, ja faktisch abgeschafft.

Die Sozialversicherungsbeiträge, egal, ob vom Bruttogehalt abgezogen, oder als soge­nannte Lohnnebenkosten vom Dienstgeber eingezahlt, stammen ausschließlich aus der Wertschöpfung und damit der Arbeitsleis­tung der unselbstständig Beschäftigten. Nur sie haben also das verfassungsmäßig verbriefte Recht, auf die Sozialversicherung Einfluss zu nehmen. Bemerkenswert ist, dass im leitenden Gremium der Versiche­rung der öffentlich Bediensteten keine Ver­tretung der UnternehmerInnen und eine Mehrheit der DienstnehmerInnen gegen­über den VertreterInnen der Regierung als DienstgeberInnen vorgesehen sind. Offen­bar ein Zugeständnis an die »schwarze« Gewerkschaft.

Klassendünkel in der Sozialversicherung

Zusätzlich will sich die Regierung direkte Eingriffsrechte dadurch verschaffen, dass die Aufsichtsfunktion des Sozialministeri­ums und des Finanzministeriums extensiv ausgelegt wird, z. B. durch Eingriffe in die Tagesordnung der leitenden Gremien oder durch Genehmigung von Personalentschei­dungen in Führungsfunktionen oder durch das Entscheidungsrecht bei Gleichstand der Stimmen in den leitenden Gremien. Als diskriminierend für die VertreterIn­nen der ArbeitnehmerInnen müssen die Voraussetzungen zur Entsendung in die Vertretungskörperschaften der Sozialver­sicherung angesehen werden. Während AkademikerInnen und GeschäftsführerIn­nen irgendeiner Firma automatisch eine Qualifikation zur Entsendung in die Ver­tretungskörperschaften zugesprochen wird, müssen andere – z. B. BetriebsrätIn­nen oder GewerkschafterInnen – erst eine entsprechende Fachausbildung und eine Eignungsprüfung durch die beiden Minis­terien absolvieren.

Der zukünftige Dachverband der Sozial­versicherungsträger wird wesentlicher Kompetenzen beraubt, so z. B. die Wahr­nehmung der allgemeinen und gesamt­wirtschaftlichen Interessen, die Vertre­tung der Sozialversicherungsträger in all­gemeinen Angelegenheiten, die Erstellung von Gutachten, die Ausrichtung von Tagungen und die Vertragsabschlusskom­petenz, kurz das »politische Mandat«, die milliardenschweren jährlichen Beitrags­leistungen gegenüber den staatlichen Instanzen geltend zu machen. Dies wird noch dadurch unterstrichen, dass die Vor­sitzführung halbjährlich wechseln soll.

Eine weitere Weichenstellung zuguns­ten der Unternehmen erfolgt durch die geplante Verlagerung der Kontrollfunk­tion von den Krankenkassen zum Finanz­ministerium. Während die Krankenkassen nicht nur die ordnungsgemäße Einhebung der Sozialversicherungsbeiträge, sondern auch die kollektivvertraglich korrekte Auszahlung der Löhne und Gehälter prüft, würde diese für die Unternehmen »läs­tige« Prüfung damit wegfallen.

Regierung stellt die Weichen zugunsten der Unternehmer

Die Verfassungswidrigkeit all dieser Maß­nahmen ergibt sich schon allein aus § 120c der Bundesverfassung, in dem es heißt: »Die Organe der Selbstverwaltungs­körper sind aus dem Kreis ihrer Mitglie­der nach demokratischen Grundsätzen zu bilden.« Das sind die 7,1 Millionen Versi­cherten und nicht die Unternehmen, und schon gar nicht die Regierung. »Nach demokratischen Grundsätzen« würde auch bedeuten, dass die Versicherten alle ihre VertreterInnen selbst wählen können, eine Forderung, die der Gewerkschaftliche Linksblock und die KPÖ seit Jahrzehnten vertreten.

Vor kurzem hat der Vorsitzende des Hauptverbandes der Sozialversicherungs­träger Biach (ÖVP), ebenfalls diese Forde­rung erhoben. Dies würde zwar das Bewusstsein und die Beziehung der Versi­cherten zu ihrer Versicherung erhöhen, dies allein würde allerdings an den Kräfte­verhältnissen in der Sozialversicherung auf der Basis der »Parität« nichts ändern. Würde die Sozialversicherung entspre­chend den Intentionen der Regierung umgebaut, hieße das freie Hand für die UnternehmerInnenvertreter mit Hilfe der Regierung. Diese könnten jede Verbesse­rung der Leistungen für die Versicherten verhindern und jede Verschlechterung von Leistungen durchsetzen. So besteht die Gefahr neuer Selbstbehalte, höhere Rezept- und Spitalsgebühren und verringerte Leis­tungen, vor allem aber die Öffnung von Töpfen der Sozialversicherung oder bishe­riger Leistungen für private, profitorien­tierte Versicherungs- und Spitalskonzerne. Der Anfang ist bereits durch das Geschenk an die Unternehmer gemacht, die 500 Mil­lionen Euro weniger in die Allgemeine Unfallversicherung einzahlen sollen.

Enteignung verhindern

Ungeachtet früherer Kritik an der Geba­rung und den oft ungenügenden Leistun­gen der Krankenkassen, für die überwie­gend die Sozialdemokratie verantwortlich ist, geht es jetzt darum, die Vernichtung der Selbstverwaltung zu blockieren. Die im Parlament und im Bundesrat vertreten Oppositionsparteien hätten die Möglichkeit dazu. Die Arbeiterkammer und der ÖGB müssten, falls das Gesetz doch beschlossen wird, den Verfassungsgerichtshof anrufen. Entscheidend ist aber der Widerstand in den Betrieben, den Kommunen, den Dienst­stellen und auf der Straße. Es geht darum, die Enteignung der Millionen Versicherten und ihrer Beiträge zu verhindern.

Gelesen 7117 mal Letzte Änderung am Freitag, 19 April 2019 11:55
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