Private Altersvorsorge – ein globaler Misserfolg

von

PETER FLEISSNER über den Mythos der »dritten Säule«.

Die verpflichtende Altersvorsorge in Österreich hat eine mehr als hundert­jährige bewegte Geschichte. Sie begann in der Monarchie: Im Jahr 1906 wurde nach der Einrichtung einer Unfallversicherung (1887) und einer Krankenversicherung (1889) die Pensionsversicherung per Gesetz eingeführt, allerdings nur für Angestellte (die so genannten »Privatbeamten«). Seit ihrer Gründung wurden Pensionsversiche­rung und Krankenversicherung von den Versicherten selbst verwaltet. Erst im Faschismus wurde die Selbstverwaltung1 durch die deutsche Reichsversicherungs­ordnung (RVO) abgeschafft und angewandt. Allerdings wurden auch die österrei­chischen ArbeiterInnen erstmals in die Versicherung einbezogen. Mit der Wieder­errichtung der Republik Österreich wurde die Sozialversicherung durch das Sozialver­sicherungs-Überleitungsgesetz 1947 auf eine neue organisatorische Grundlage gestellt: Der Hauptverband der österrei­chischen Sozialversicherungsträger diente von nun an als Dachorganisation für die sich wieder selbst verwaltenden Kranken-, Unfalls- und Pensionsversicherungen, die allerdings noch nach ArbeiterInnen und Angestellten getrennt waren. 1958 wurden die selbstständigen Gewerbetreibenden in das Pflichtversicherungssystem einbezo­gen, 1979 folgte der bäuerliche Bereich. 2003 kam es zur Fusion der Pensionsversi­cherungsanstalten für ArbeiterInnen und Angestellte, 2005 zu einem einheitliches Pensionsgesetz2. Dieses Gesetz bestimmt bis heute den ersten und wichtigsten Pfei­ler des »Drei-Säulen-Modells« der Alters­vorsorge in Österreich.

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Privater Einfluss wächst

Als zweite Säule bezeichnet man die von einigen großen Unternehmen eingerichte­ten betrieblichen Pensionskassen3. Als dritte Säule gewann unter dem Einfluss der privaten Versicherungen und Investment­banken seit 2005 die private, aber öffent­lich geförderte Altersvorsorge an Bedeu­tung.

Anders als bei der Sozialversicherung, die nach dem Umlageverfahren4 funktioniert, beruht die private Altersvorsorge auf dem Kapitaldeckungsprinzip. Die zugrunde lie­gende Idee fußt auf dem falschen Glauben an die permanente Wertsteigerung von Wertpapieren. Die Privatversicherten zah­len auf ihr privates Pensionskonto ein. Die Pensionskasse veranlagt diese Beträge in Wertpapieren5. Von den Erträgen wird dann monatlich die Pension ausbezahlt.

Jahrelang machten die Versicherungen und die Massenmedien Werbung für die Einführung einer dritten Säule des Pensi­onssystems, oft mit der unbewiesenen Behauptung, dass die Pensionen nicht mehr gesichert wären und die Lohnabhängigen selbst für ihren Ruhestand vorsorgen müss­ten.

Die dritte Säule

Jedenfalls hat sich diese Propaganda für die Versicherungsbranche durchaus bezahlt gemacht: 2012 erreichten die neu abge­schlossenen Verträge einen Spitzenwert von über 1,638 Millionen (siehe Abb. 1). Das vom Finanzkapital dadurch zusätzlich verwaltete Vermögen stieg auf beinahe 9 Milliarden Euro und wurde damit zu einer wesentlichen Vorsorgeform der ÖsterreicherInnen.6 Der Zeitpunkt für den Einstieg war klug gewählt. Er erfolgte im Jahr 2005, als der große Ein­bruch der Börsenkurse im Jahr 2003 bereits langsam in Vergessenheit geriet und die Kurse sich erholten (siehe Abb. 2). Und für einige Jahre ging es tatsächlich steil auf­wärts. Die neoliberale Illusion wurde genährt, dass Geld tatsächlich arbeiten und noch mehr Geld hervorbringen würde.

Die Blase platzt

Die Warnungen der KritikerInnnen waren nicht unbegründet. In der großen Finanz­krise von 2008/9 platzte die Blase und die Börsen brachen weltweit zusammen (siehe Abb. 2). Die staatliche Prämie, die zu Beginn 9 Prozent ausgemacht hatte, wurde auf 4,2 Prozent herabgesetzt, was die ohnehin ange­schlagene Attraktivität der privaten Alters­vorsorge ein weiteres Mal verminderte.

Nur noch sieben der befragten zwanzig Versicherungsunternehmen schlossen über­haupt Neuverträge ab. Die 14.500 Neuab­schlüsse (2017, Tendenz stark fallend) sind weit davon entfernt, die abreifenden Ver­träge und voraussichtlichen Kündigungen finanziell auszugleichen.7 Die erwarteten Erträge stellten sich nicht ein, im Gegenteil. Es traten Verluste auf, im zweiten Quartal des Vorjahrs lagen sie zwischen 0,11 bis 3,19 Prozent.8 Die jüngste Kennzahl, die ich fin­den konnte, gibt die durchschnittlichen Ver­luste seit Jahresbeginn bis September 2018 mit 1,14 Prozent an.9

müss­ten.

Und täglich grüßt das Murmeltier…

Obwohl der Flop der privaten Altersvor­sorge in Österreich unübersehbar ist, spra­chen sich auf der jüngsten Pensions-Enquete der ARGE Zusatzpensionen die MinisterInnen und Abgeordneten zum Nationalrat für sie aus: »Man wird sich überlegen müssen, wie man die betriebli­che und private Altersvorsorge als Ergän­zung zur staatlichen Pension zügig aus­bauen kann«. »Es braucht einen Schulter­schluss der Arbeitgeber- und Arbeitneh­mer-Vertretungen, um gemeinsam etwas Gutes zu erreichen.«10 Offensichtlich ist die Lernfähigkeit der VertreterInnen dieser Regierung ziemlich beschränkt. Hoffentlich haben zumindest Gewerkschaft und Arbei­terkammer ihre Lektion gelernt, kein wei­teres Mal die private Altersvorsorge zu unterstützen.

Aufstieg…

Ich habe nachgeforscht, wie und wo die Pri­vatisierungswelle für die Altersversorgung eigentlich begonnen hat. Es ist bezeich­nend, dass das erste Privatisierungsexperi­ment schon 1981 in Chile in die Zeit der Diktatur von General Pinochet fällt. Auf Empfehlung der Chicago Boys, einer Gruppe von ÖkonomInnen, die an der Uni­versität Chicago ausgebildet worden waren, wurde das staatliche Pensionssystem in ein privates System umgewandelt. Die Regie­rung wollte die Belastung des Steuertopfes durch die Pensionsversicherung senken, indem für jede/n Versicherte/n ein indivi­duelles Pensionskonto eingerichtet wurde, das von privaten Pensionskassen verwaltet wurde.

Die Umstellung des Systems nach dem Kapitaldeckungsprinzip war für alle Lohn­abhängigen verpflichtend11, für Selbststän­dige freiwillig. Die Beiträge von Seiten der Unternehmen wurden gestrichen, immer­hin wurde als kleiner Ausgleich eine Lohn­erhöhung von 11 Prozent vorgeschrieben. Die Beiträge konnten von der Steuer abge­setzt werden. Auf diese Weise wurden die Lohnabhängigen zwangsweise zu Kunden der Finanzindustrie, ohne jedoch über hin­reichende Informationen zu verfügen, selbst vernünftige Entscheidungen über die Veranlagung ihres Kapitals treffen zu kön­nen. Ein wichtiges Ziel der Regierung war es, mit den privaten Ersparnissen der Lohn­abhängigen die Kapitalmärkte zu stimulie­ren.

Das chilenische Pensionsexperiment erregte in der ganzen Welt Aufsehen und wurde von den internationalen Finanzinsti­tutionen und konservativen Think-Tanks als richtiger Weg in die Zukunft gefeiert, allen voran von der Weltbank, dem Welt­währungsfonds, der OECD, dem neolibera­len Cato Institut und von inter-amerikani­schen und asiatischen Entwicklungsban­ken.

…und Fall

Heute sieht die Einschät­zung ganz anders aus: Die ILO hat in 30 Län­dern (14 aus Latein­amerika, 14 aus Osteuropa und der ehemaligen Sowjetunion, sowie Nigeria und Ghana)

die Pensionsprivatisierung untersucht12 und kommt zum Schluss, dass die Privati­sierung in den vergangenen drei Jahrzehn­ten mehrheitlich Misserfolge gebracht hat. Bis 2018 haben 18 dieser Länder die Priva­tisierung zurückgenommen, wobei die Weltfinanzkrise im Jahre 2008 für die Pen­sionistInnen eine Katastrophe war. Die Beträge, die sie im Erwerbsleben einge­zahlt hatten, wurden innerhalb weniger Tage drastisch entwertet. Aber auch schon in den Jahren 2001–2002 führte die lokale Finanzkrise in Argentinien zu einem Ein­bruch des angesparten Kapitals um 44 Pro­zent, was zum Stopp des privaten Pensi­onssystems im Jahr 2008 führte. In Chile wurden die Pensionsfonds sogar um 60 Prozent entwertet, in Peru auf die Hälfte reduziert.

Negative Bilanz

Obwohl internationaler Konsens darüber besteht, dass soziale Sicherheit auf alle Menschen ausgedehnt werden sollte, hat die Privatisierung den Anteil der aktiven EinzahlerInnen an der Zahl der Arbeits­kräfte wesentlich reduziert.

So ging der Anteil der BeitragszahlerInnen z. B. in Argentinien von 46 Prozent auf 25 Prozent für Männer (bzw. von 42 Prozent auf 31 Prozent für Frauen) zurück. In vielen Län­dern erreichten nach 30 Jahren Beitragsleis­tung die privaten Pensionen nicht einmal mehr die durch die ILO-Konvention Nr. 102 festgeschriebenen 45 Prozent des Referenz­lohns. Die Solidarität in der Gesellschaft wurde untergraben, da Menschen, die wenig verdienen, sich die Beiträge für eine men­schenwürdige Pension nicht leisten können. Die traditionellen Sozialversicherungssys­teme kompensieren zumindest teilweise die Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern und deren Einkommen und ermöglichen den verwundbarsten Mitgliedern der Gesellschaft ein Leben in Würde. Dennoch werden das Finanzkapital und die damit verbundenen Medien nicht müde, auch in Österreich immer noch für die dritte Säule zu werben.

1        Unter Schwarz-Blau wird die Selbstverwaltung wieder unter­miniert. ­

2        Die BeamtInnen waren und sind davon ausgenommen.

3        Die Neugründung von Betriebskassen ist nicht mehr zulässig.

4        Die Gelder der Beitragsleistenden werden direkt für die Finanzierung der Pensionen verwendet.

5        Eine erhöhte Nachfrage nach Wertpapieren treibt ihren Kurs nach oben, was eine weitere Finanzierungsquelle für die Pen­sionskassen darstellt.

6        https://www.bmf.gv.at/finanzmarkt/altersvorsorge/ueberblick-altersvorsorge.html#Entwicklung.

7        Österreichische Finanzmarktaufsicht (2018): Der Markt für die prämienbegünstigte Zukunftsvorsorge 2017. Siehe https://www.fma.gv.at/download.php?d=3571.

8        https://www.mercer.at/newsroom/deutliche-unterschiede-der-veranlagungsstrategien-der-pensionskassen.html

9        https://www.oekb.at/kapitalmarkt-services/unser-datenange­bot/veranlagungsentwicklung-der-pensionskassen.html

10       https://www.ots.at/presseaussendung/OTS_20181002_ OTS0105/zusatzpensionen-als-ergaenzung-zur-staatlichen-pension-muessen-rasch-ausgebaut-werden.

11       Interessanterweise war das Militär von der Umstellung nicht betroffen und blieb weiterhin im öffentlichen System.

12       International Labour Office (2018): Reversing Pension Priva­tizations. Rebuilding public pension systems in Eastern Europe and Latin America, Genf: ILO. https://www.ilo.org/wcmsp5/groups/public/—-ed_protect/—-soc_sec/documents/publication/wcms_648574.pdf

Gelesen 7915 mal Letzte Änderung am Dienstag, 09 April 2019 10:13
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