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Der Mensch erkennt sich in der Scham als das »verminderte, abhängige und erstarrte Objekt, das ich für den Anderen bin« (J. P. Sartre).

Von Helga Wolfgruber

Scham ist ein in seiner körperlichen und psychischen Reaktivität ein folgen­schwerer Affekt. Seine Bedeutung findet in Theoriebildung und psychotherapeutischer Praxis noch immer nicht genügend Beach­tung. Das führt zu einer häufigen, konse­quenten Ausblendung oder Verkennung von Schamreaktionen und sorgt oft für nie enden wollende Konflikte durch trans ­generationale Weitergabe.

Die schmerzliche Wirkmächtigkeit dieses Affektes findet in den Worten Sartres stim­migen Ausdruck: Selbstwertproblematik, Abhängigkeit von Anderen, Erstarrung als möglicher Schutz vor Wieder-Erleben oder Reagieren-Müssen.

Das Wesen der Scham

Scham, ein intersubjektiver, sozialer Affekt, ist nur im »Zwischen« (Altmeyer) oder an der inneren Grenze des Begegnungsraumes angesiedelt. Das heißt, ohne reale oder phantasierte Anwesenheit eines Anderen ist Scham nicht vorstellbar. Sie ist an ein »Gesehen werden« gebunden und regis­triert als »Grenzwächter« das Eindringen von Fremden und Fremdem. Sie fungiert daher auch als Regulationshilfe des eigenen moralischen, ethischen Verhaltens und des Gestaltens von Beziehungen. Sie hilft mir, Andere »in die Schranken zu weisen« oder sie »mir vom Leibe zu halten«. Ich kann auch aktiv zur Beschämer*in werden und Scham lebenslang als Sozialisationshilfe nutzen.

Ein Charakteristikum des (heftigen) Scha­merlebens ist die Unfähigkeit des Verstan­des, diesen Zustand kontrollierend zu been­den. Das klare Denken wird vorübergehend außer Kraft gesetzt und bringt Beschämte in eine unsichere Lage über ihre Identität. Der Bruch im Selbsterleben wird von Seid­ler u.a. mit einem Zustand der Selbst-Ent­fremdung verglichen. »In den Boden zu versinken« oder zumindest »sich in ein Mausloch verkriechen zu wollen« würde Erlösung bringen. Kein anderes Gefühl ver­anlasst Menschen dazu, sich eine Auslö­schung ihrer selbst zu wünschen. Ebenso verweisen die Metaphern »wenn Blicke töten könnten...« oder »dein böser Blick hat meinen Körper durchbohrt ...« auf die Bedrohlichkeit dieses Affektes.

Seine Wirksamkeit lässt sich auch nicht verbergen, weil der Körper ein schneller Gehilfe und Überbringer der erlittenen Beschämung ist. Schamröte, Zittern, Schwitzen, verwirrtes Stammeln, Herzra­sen oder unkoordinierte Bewegungen machen einen der intimsten Aspekte der Persönlichkeit sichtbar: seelische Verletz­lichkeit. Mit Grausamkeit wird diese sicht­bare Reaktion besonders oft von Jugendli­chen durch Verspottung, also einer Ver­dopplung der Beschämung, beantwortet. Auf dem Prüfstand stehen immer Verlust von Würde, Integrität und die Angst vor dem Ausgeschlossen-werden.

Schämen wovor?

»Schäm dich!« als verbaler, pädagogischer Imperativ hat zwar an Bedeutung verloren, als Mittel der Beschämung zur Durchset­zung gesellschaftlicher oder gruppenspezi­fischer Normen ist er aber ein Akt der Be­strafung geblieben. Es wäre falsch, Scham als Relikt des vorigen Jahrhunderts zu »be­greifen«. Sie ist ein universales (Macht-) Phänomen, begleitet uns ein Leben lang so­wohl als positive, emotionale Erfahrungs-, als auch schädliche zerstörerische Leidens­möglichkeit.

Die verbreitete menschliche Lust zu Kate­gorisierung und Begriffsbestimmung hat Schamexpert*innen zur Untersuchung und Beschreibung unterschiedlicher Scham­quellen veranlasst. Das Ergebnis lässt kei­nen sicheren Ort erkennen, an dem Beschä­mung keine Rolle spielen könnte. Sei es die Verweigerung des Wahlrechts für ALLE hier Lebenden, Frauen bei der Arbeitsplatzsuche wegen möglicher Schwangerschaft zu benachteiligen, an Ausländer*innen keine Wohnung zu vergeben oder die Aufforde­rung beim Arzt, den Oberkörper freizuma­chen.

Zeitgeist, Kulturspezifika und persönliche Schamerfahrungen bestimmen lediglich die Qualität des Erlebens. Sicher ist, dass unter hierarchischen Bewertungskriterien eines auf Exklusion beruhenden Gesellschafts ­systems die Folgen »zum Schämen« sind. Das stressreiche Heraustreten aus dem Schatten der Scham gelingt oft nur durch Gehorsam und Anpassung an Gruppen- oder Mehrheitsnormen, durch Perfektio­nismus bis hin zu Rechthaberei, emotionale Er starrung/Aktivitätslähmung oder durch eine Schamumkehr: Arroganz und vorge­täuschte Selbstsicherheit. Toxische Inhalts­stoffe für das Miteinander-Leben. Und auch oftmals für das Miteinander-Kämpfen in politischen Parteien.

Du bist nicht liebenswert …

Säuglings- und Bindungsforscher*innen haben die Bedeutung frühkindlicher Schamentwicklung für die Persönlichkeits­entwicklung ausführlich untersucht. Als Existentielle Scham oder Daseinsscham bezeichnen sie Schamgefühle, die sich auf die eigene Körperlichkeit beziehen. Das Gefühl des Nicht-gewollt-Seins, sich im »Glanz der mütterlichen Augen« (H. Kohut) nicht positiv gespiegelt zu sehen oder sich immer als Sündenbock erleben zu müssen, führt zu großem Selbstmisstrauen, verhin­dert Entwicklung von Selbstwert und begünstigt ein zweifelndes Grundgefühl, auch der Welt gegenüber. Eine negative Scham-Biographie ist beinahe vorgezeich­net, wenn sich Eltern oder nahe Bezugsper­sonen kindlichen Bedürfnissen gegenüber dauerhaft so verhalten, als wäre das Kind nicht existent. Die kindliche Frage heißt: Bin ich es nicht wert? Und die Antwort: Ich bin bedeutungslos.

Herkunftsscham/Sozialscham

Dazu eine Mini-Beschämungsgeschichte vom Beginn meiner Gymnasialzeit. Meine Tante hat mich zur Aufnahmeprüfung angemeldet und war im Gespräch mit dem Direktor von seiner entlarvenden Frage/ Feststellung irritiert. »Ach, das ist die Tochter von dem kleinen Wirten da drüben …?!« Noch beim Durchwandern meiner spä­teren Bildungsinstitutionen, den Laborato­rien von Beschämung, bin ich oft über die­sen Satz, für mich eine schmerzliche Erin­nerung, gestolpert. Norbert Elias hätte jene von mir empfundene Scham vielleicht »als Angst vor der sozialen Degradierung oder (…) vor den Überlegensheitgesten Anderer« interpretiert. Das soziale, hierarchische Gefälle mit »Schamhoheit« und Racheant­worten habe ich früh als Klassenspezifika kennen- und kritisieren gelernt.

An der Bedeutung von Herkunft als »Schamproduzenten« und sozialen Platzan­weiser haben sich schon viele Disziplinen abgearbeitet. Und Menschen erst recht. Darüber gibt eindrücklich auch autobiogra­phische Literatur (Innerhofer, Eribon ...) Auskunft. Die Diskrepanz zwischen dem, »wie ich bin«, und meiner »Idealvorstel­lung von mir« hat schon viele Menschen bewogen, ihrer Herkunftsklasse entfliehen zu wollen. Die Scham darüber beschreibt Neckel als Gefühl der Selbstentfremdung und »wer sich schämt, verachtet sich, der ist sich selbst fremd geworden (...)«. Diesem Zustand entkommen zu wollen, ist ver­ständlich. Auch wenn der Preis manchmal hoch ist, weil er zu einem lebenslangen Nomadenleben in der eigenen Biographie verurteilen kann. Solange eine Gesellschaft aber das Erklimmen der obersten sozialen Stufenleiter mit Kapital- und Machtbesitz belohnt, hat auch Armut schlechte Karten, um sich aus den Fesseln der Scham befreien zu können. Es reicht nicht, die Sprossen der Leiter enger zu setzen – eine Neuorganisa­tion der noch immer patriarchalen Gegen­wart ist notwendig. Ohne Leiter. Ohne Bein­bruch.

Fremdschämen

Eine merkwürdige Variante des Schämens ist das Fremdschämen. Es wurde 2010 zum Wort des Jahres gekürt und meint »stell­vertretende Peinlichkeit«. Es setzt die Fähigkeit voraus, sich in andere Men­schen, Berufsgruppen oder Situationen hineinversetzen zu können. Je näher, desto heftiger die Reaktion. Meine per­sönliche Bereitschaft zum Fremdschämen nimmt zu und wird häufig von Politiker* innen ausgelöst. Es sind deren stereotype Worthülsen, ihre Scham-Losigkeit, mit der sie Kritik abweisen und dem politi­schen Gegner alleinige Schuld am eigenen Versagen zuschreiben. Die Angst vor dem »Gesichtsverlust« rechtfertigt neben Lügen auch das Klammern an Machter­halt. Auf diese fehlende Bereitschaft zu Selbstkritik, auch von Genoss*in nen, hat Rosa Luxemburg in vielen Texten hinge­wiesen.

Eine Antwort heißt Rache

Die menschliche Seele kennt eine Vielzahl von Möglichkeiten, schambesetzte Grenz­verletzungen zu beantworten. Im Rache­akt wird passiv Erlittenes in aktives Han­deln verwandelt. Durch die Opfer-Täter-Umkehr wird zumindest ein Gefühl der Genugtuung garantiert. Wer erinnert sich nicht an das Haxl-Stellen, jemanden auf­blatteln, anrennen oder auf die Seife stei­gen lassen? Vielleicht spiegelt sich in die­sen Ritualen jene Schadenfreude wider, die einem kurzfristig das Gefühl von Überlegenheit bereitet.

Übertragen auf die politische Bühne der Gegenwart heißt der Beschämungs-Ping-Pong: aufdecken, der Korruption überfüh­ren, verdächtigen, entwerten, zerstören. Angesichts der Schamlosigkeit der Regie­rungspolitik im Besonderen einiger ihrer Repräsentant*innen scheint die Strategie die einzige zu sein, um demokratische Rechte zu verteidigen. Was dadurch wirk­lich zerstört wird, ist politische Kultur und der Glaube an die Lösung von Proble­men durch Politik.

Scham ein Kriegstreiber?

Missachtung und Zurückweisung als Beschämung wirken lebenslang nach. Nicht immer bleiben die Konsequenzen als Wut, Neid oder geheimer Groll im Res­sentiment als Schamteile der Seele ver­borgen. Oft erst nach Jahren zeigen sich Scham-Folgen im Außen und bestimmen Handlungen der Beschämten, bis hin zu Gewalt und Krieg.

Beispiel dafür aus der Geschichte des 20. Jahrhunderts wäre Milosevic’s Schwur am Amselfeld, dass »die Serben nie wieder ge demütigt werden« sollten. Oder Hitler, der die »Schande von Ver­sailles« auslöschen wollte. Ist Scham einer der Treibstoffe, der die Kampfbe­reitschaft aufrecht hält?

Kein Entweder/Oder!

Wollen wir in einer solidarischen Gesell­schaft leben, in der Angst und Scham der Nährboden entzogen ist, dann bedarf es größerer Anstrengungen, als nur Symptome zu bekämpfen. Die Lösung liegt nicht in einer Therapeuti­sierung der Gesellschaft. Aber auch nicht im Unterschätzen der emotionalen Bedürfnisse der Menschen. Denn dadurch erhöht sich das Risiko, dass diese Menschen gegen ihre ökonomi­schen Interessen wählen, weil sie sich für ihre emotionalen Bedürfnisse ent­scheiden. Die Soziologin A. R. Hoch­schild lieferte dafür ein berührendes Beispiel: Ausgerechnet die ärmsten Wähler*innen in den verelendeten Bezirken im Süden der USA wählten republikanisch – gegen ihre ökonomi­schen Interessen. Warum? Weil sie sich von den Demokraten beschämt fühlten, die sie als dumme und rassistische Hin­terwäldler verhöhnt hatten. Dafür räch­ten sie sich an der Wahlurne.

Eine emanzipatorische Politik darf die emotionalen Bedürfnisse nicht zum Nebenwiderspruch degradieren und deren Befriedigung auch nicht der Rech­ten überlassen. Das wusste schon Wil­helm Reich vor fast 100 Jahren: »Ver­sucht man die Struktur der Menschen allein zu ändern, so widerstrebt die Gesellschaft. Versucht man die Gesell­schaft allein zu ändern, so widerstreben die Menschen«.

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Die Lohnquote ist in Österreich seit 1975 um mehr als 16 Prozentpunkte gefallen. … Eine solidarische Lohn ­politik wurde ebenfalls nicht erreicht.

Eine Rezension von PETER FLEISSNER

Aktiv in vielfältigen Einrichtungen der Lohnabhängigen1 ist Fritz Schiller mit ihren Problemen bestens vertraut. Es ist ihm gelungen, erstmalig in einer Monogra­fie die theoretischen Konzepte und prakti­sche Ergebnisse der Lohnpolitik in Öster­reich seit den 1960er Jahren detailliert zu durchleuchten und ihre jeweiligen Rah­menbedingungen zu untersuchen.

Neben einigen anderen theoretischen Ansätzen testet er, welche Ergebnisse die Gewerkschaften mit dem Konzept der pro­duktivitätsorientierten und solidarischen Lohnpolitik erzielt haben. Ohne Zweifel ist sie in den späten 1960er Jahren bis in die 1970er Jahre tatsächlich realisiert worden.

Benya-Formel

Damals konnte der ÖGB einen Erfolg verbu­chen, der bis heute nie mehr erreicht wurde. Unter dem Gewerkschaftspräsiden­ten Anton Benya gelang es, nach der Formel »Reallohnerhöhung = Abgeltung der Preissteigerungen plus Wachstum der gesamtwirtschaftlichen Arbeitsproduktivi­tät« höhere Reallöhne durchzusetzen und zehn Jahre lang einen Gleichstand bei der Verteilung der Zuwächse der Arbeitspro­duktivität zu erreichen. Interessanter Effekt am Rande: Als 1975 die Wirtschaft in Österreich einbrach, die Wirtschaftsfor­scher aber fälschlich eine weitere Expan­sion vorhersagten, wurden in den sozial­partnerschaftlichen Gremien die Löhne ein­vernehmlich erhöht, mit dem Effekt, dass in Österreich durch die gestiegene Kauf­kraft die Arbeitslosenquoten wesentlich geringer blieben als in Deutschland.

In den letzten Jahrzehnten konnte die Benya-Formel nicht mehr durchgesetzt werden. Seitdem in der Gewerkschaft die richtungsweisenden Kollektivverhandlun­gen nicht mehr zentral, sondern von Ein­zelgewerkschaften (allen voran von den Metallern) bestritten wurden, zerfiel die solidarische Lohnpolitik, die auch für schwächere Branchen gleiche Lohnzu­wächse forderte. Trotz weiterhin wachsen­der Produktivität stagnierten die Reallöhne über Jahrzehnte. Eine weitere Schwäche: Die Lohnpolitik konnte die große Ungleich­heit der Löhne und Gehälter weder zwi­schen Männern und Frauen noch zwischen verschiedenen Beschäftigtengruppen abbauen. Männer verdienten 2015 um 62 Prozent mehr als Frauen (S. 287), Beam­tInnen verdienten 2,8-mal so viel wie ArbeiterInnen, Vertragsbedienstete und Angestellte um 67 bzw. 58 Prozent mehr.

Machtfrage

Als theoretische Alternative zieht Schiller Karl Marx mit seinem Konzept der indus­triellen Reservearmee heran. Marx zufolge führt die Tendenz, Arbeitskräfte durch Maschinen zu ersetzen, dazu, dass eine »überflüssige oder Zuschuss-Arbeiterbevöl­kerung« entsteht. Das Vorhandensein einer Reservearmee würde die Ansprüche der arbeitenden Menschen drücken, da die UnternehmerInnen jederzeit auf Arbeits­lose zurückgreifen könnten. Tatsächlich wirkt dieses Konzept selbstverstärkend: Höhere Arbeitslosigkeit führt zu einer Schwächung des Einflusses der Lohnabhän­gigen, und diese wieder zu höherer Arbeits­losigkeit. Weiters konstatiert Schiller einen negativen Zusammenhang zwischen Arbeitslosenquote und Lohnwachstum. Seine Bilanz: »Die Ergebnisse sind ernüch­ternd… Seit 1975 haben die Arbeitnehme­rinnen in Österreich kumuliert um mehr als 15 Prozentpunkte weniger erhalten, die Lohnquote ist seit 1975 um mehr als 16 Pro­zentpunkte gefallen. …Eine solidarische Lohnpolitik wurde ebenfalls nicht erreicht.« (S. 287)

Möglicherweise ist die politische Orien­tierung des ÖGB an diesen Misserfolgen schuld, wonach es »nicht Aufgabe der Gewerkschaften (ist), im Kapitalismus die Machtfrage zu stellen. Das ist jenen Arbei­terInnenparteien vorbehalten, die ihr stra­tegisches Ziel in der Ablöse des Kapitalis­mus sehen.« (S. 96). Wer damit wohl gemeint ist?

1 Betriebsratsobmann einer international tätigen Bank, Mit­glied im Bundesvorstand der GPA und des erweiterten Bun­desvorstands der Alternativen und Grünen GewerkschafterIn­nen / Unabhängigen GewerkschafterInnen (AUGE/UG), der Bundesarbeitskammer, des Vorstandes der Wiener Gebiets­krankenkasse und Wiener Arbeiterkammerrat.

ZITIERT*

Der beachtliche wirtschaftliche Aufschwung bei relativ modera­ter Inflation in den zwei Jahrzehnten bis 1971 war auch eine Folge der engen Zusammenarbeit zwischen Regierung und Sozi­alpartnern (Beer et al., 2016, S. 21). Diese Zusammenarbeit zielte auf ein ausgewogenes Verhältnis von internationaler Wettbe­werbsfähigkeit und Reallohnerhöhungen sowie der Sicherstel­lung von sozialem Wohlstand und Frieden ab. Die Beschleuni­gung der Geldentwertung im Jahr 1957 führte zur Gründung der Paritätischen Kommission für Preis- und Lohnfragen. Die Sozial­partner verpflichteten sich dazu, alle Wünsche nach Preis- bzw. Lohnerhöhungen von dieser Kommission begutachten zu lassen (Butschek, 2011, S. 313; Seidel, 2005). Anfang der 1960er-Jahre (Raab-Olah-Abkommen) wurde zusätzlich ein Lohnunteraus­schuss eingesetzt, der fortan Lohnverhandlungen freizugeben und die Ergebnisse dieser Verhandlungen (»Kollektivverträge«) zu genehmigen hatte. Zusätzliche Impulse für den Ausbau des Kapitalbestands und die Ankurbelung des Potenzialwachstums kamen von Steuererleichterungen für Investitionen und Maß­nahmen zur Investitionsförderung. Exportförderungspro­gramme, etwa attraktive staatliche Garantiemodelle und Finan­zierungen durch die öffentliche Hand, beflügelten die interna­tionale Verflechtung der österreichischen Wirtschaft.

*) https://fritz.breuss.wifo.ac.at/Breuss_100_Jahre_oesterreichische_Wirtschaft_WIFO-WP_570_23_10_2018.pdf

Fritz Schiller: Lohnpolitik in Österreich. ÖGB Verlag Wien 2018

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Rechtsextreme Väterrechtler, eine klerikal-konservative Familienministerin und das desaströse Unterhaltsrecht sind Ursachen für die prekäre Lage von Alleinerzieherinnen und ihren Kindern.

Von Iris Hanebeck

Alleinerziehen als strukturelle Armutsfalle

Rund 167.800 Alleinerziehende gibt es in Österreich, davon über 90 Prozent Frauen. Fast jede zweite Ein-Eltern-Familie lebt in Armut. Warum ist das eigentlich so?

Die hohe Armutsrate von Alleinerziehenden und ihren Kindern hat zahlreiche Ursachen. Zunächst gibt es – wenn überhaupt – nur ein einzelnes Familieneinkommen, mit welchem sämtliche Ausgaben gedeckt werden müssen. Obwohl Alleinerzieherinnen ohnedies die gesamte unbezahlte Care-Arbeit selbst verrichten, arbeiten sie zudem durchschnittlich mehr Lohnarbeitsstunden als Mütter in Hetero- Kleinfamilien. Trotzdem sind viele auf staatliche Leistungen wie die Mindestsicherung angewiesen. Ohne soziale Transferleistungen läge die Armutsrate unter Alleinerziehenden bei weit über 60 Prozent. Sie leben häufiger in überbelegten, zum Teil schimmligen Wohnungen. Das Familieneinkommen muss rationiert werden. Dennoch reicht es manchmal nicht einmal für das, was viele Menschen hierzulande als Selbstverständlichkeiten erleben: Etwa die Möglichkeit im Winter ausreichend zu heizen oder den Kindern Schulausflüge zu ermöglichen. Armut ist physisch und psychisch enorm belastend und geht mit einer erheblichen Beschämung der Betroffenen einher. Die Volkshilfe geht von einer halben Million Kinder in Österreich aus, die in Armut leben. Diese Dimensionen decken sich auch mit der Anzahl an Kindern, die beim Familienbonus der letzten türkis-blauen und aktuellen türkis-grünen Koalition leer ausgehen. Nur ein Beweis, dass Kinderarmut – obwohl es gesellschaftlichen Konsens darüber gibt, dass diese dringend beseitigt werden muss, um das beliebte Schlagwort der »Chancengerechtigkeit« annähernd verwirklichen zu können – politisch nach wie vor keine Rolle spielt. Ökonomische Umverteilung nach unten ist ein Kampf, der heute dringender denn je geführt werden muss.

Antifeministischer Backlash von rechts

Was historisch überhaupt erst erkämpft werden musste, ist die rechtliche Möglichkeit, als Frau die eigenen Kinder überhaupt alleine großziehen zu dürfen. Erst im Juli 1989 wurde Alleinerzieherinnen das Recht auf die Obsorge ihrer eigenen Kinder zugesprochen. Fehlte der Vater, ging dieses Recht bis dato auf die Jugendwohl-fahrt über, inklusive regelmäßiger Kontrollen in den eigenen vier Wänden. Mütter konnten ihre Kinder betreffend keine selbstständigen Entscheidungen fällen. Im selben Jahr wurde übrigens auch erstmalig die Vergewaltigung in der Ehe zum Straftatbestand erhoben. All diese Errungenschaften gehen maßgeblich auf die zweite Frauenbewegung in Österreich zurück. Während es in den 1990er-Jahren mit Frauenministerin Johanna Dohnal, die sich nicht nur als Feministin bezeichnete, sondern auch die Anliegen der autonomen Frauenbewegung in die österreichische Innenpolitik trug, eine gewisse Aufbruchsstimmung gab, wurde die ernüchternde Frauen- und Familienministerin Susanne Raab mittlerweile mit vier Ressorts – Integration, Frauen, Familie und Jugend – betraut. Diese vertritt ein reaktionär christlich-konservatives Welt-und Familienbild, unterwirft die Frauenagenden einer rassistischen Teilungspolitik und macht Sexismus damit zu einem Problem der Anderen, lädt, statt feministische Politik zu machen, lieber mit Gudrun Kugler und Wolfgang Sobotka zum Beten ins Parlament ein.

Politische Einflussnahme durch reaktionäre bis rechtsextreme Väterrechtsgruppen

Ministerin Raab ist nur ein Abbild einer langen Kette von reaktionären bis rechts-extremen Einflüssen auf das Geschlechter- und Familienbild österreichischer Regierungsarbeit. Seit zwei Jahrzehnten lobbyieren Väterrechtler im eigenen Interesse für Änderungen im Familien-, Obsorge- und Unterhaltsrecht, sind Teil des politischen Establishments und sitzen entweder selbst auf Tickets der ÖVP und FPÖ im Parlament oder verfügen über weitreichende Netzwerke in diese Kreise. Norbert Hofer ist aktiver Väterrechtler und war Betreiber der formell »überparteilichen« Initiative »Trennungsopfer«. Ein weiterer Mitstreiter, Karlheinz Klement, wurde sogar aus der FPÖ ausgeschlossen, weil er »Homosexualität [als] Kultur des Todes« bezeichnete und den damaligen Bundespräsidenten Heinz Fischer mit dem Begriff »Kinderschänder« bedachte. Auch Heinz Christian Strache hatte ein Näheverhältnis zur Väterrechtsbewegung in Österreich. Der Obmann von »Väter ohne Rechte«, die mittlerweile wichtigste Lobbygruppe dieser Bewegung, Martin Stieglmayer, war selbst BZÖ-Politiker und Büroleiter bei Bürgeranwalt Ewald Stadler. Er fällt mit Hetzkampagnen gegen Frauenhäuser, einem misogynen Weltbild und homophoben Tiraden auf. Auf einschlägigen Websites werden beispielsweise immer wieder die Adressen der Wiener Frauenhäuser veröffentlicht.

Diese Männer, die sich selbst gerne als Opfer der Justiz und des Feminismus sehen, beeinflussen die Familien- und Frauenpolitik Österreichs maßgeblich und setzen dabei auch auf Politiker*innen, die ihr reaktionär-konservatives und patriarchales Weltbild teilen. Damit waren sie vor allem im letzten Jahrzehnt sehr erfolgreich. So brachten 2013 mehrere Väterrechtler sowohl bei den österreichischen und deutschen Verfassungsgerichtshöfen als auch beim Europäi-schen Gerichtshof für Menschenrechte eine Klage gegen die Ungleichbehandlung gegenüber den Müttern ein. Ihnen wurde Recht gegeben und so waren die Staaten zu einer Gesetzesreform gezwungen. Die österreichischen Väterrechtler waren damals eng mit Justizministerin Claudia Bandion-Ortner und ihrer Nachfolgerin Beatrix Karl (beide ÖVP) verbunden. Während der Verein Väter ohne Rechte von Stunde eins in der Gesetzes reform-Arbeitsgruppe vertreten war, wurde keine einzige frauenpolitische Organisation miteinbezogen. Die damaligen Kernanliegen der Väterrechtler lassen sich wie folgt zusammenfassen: Bislang ging die Obsorge bei unverheirateten Eltern nach der Trennung in aller Regel an die Mütter, weshalb die Väterrechtlicher massiv für die gemeinsame Obsorge und das Doppelresidenzmodell der Kinder lobbyierten, mit dem Resultat, dass dies seit 2015 in der österreichischen Rechtsprechung mehr oder weniger Standard wurde. Für Laien mag die gemeinsame Obsorge nach einem progressiven Modell mit Beteiligung der Väter an der Care-Arbeit klingen. In der Praxis stehen jedoch oft ganz andere Überlegungen dahinter: Zum einen geht es um Macht, die (de- facto) alleinerziehenden Müttern jederzeit in Entscheidungen in Bezug auf die Kinder blockieren zu können (Bsp.: Mutter meldet Kind in Schule an, Vater meldet es wieder ab) und zum anderen um den Unterhalt. Denn trotz eines vorgeblich stolzen Männerbildes als Ernährer der Familien, verstehen sich Väterrechtler häufig als »Bankomaten« und »Sklaven« eines männerfeindlichen Justizsystems. Zur Erinnerung: 2015 plakatierte die Väterrechtskampagne von Vaterverbot in Wien Werbewände mit der Aufschrift »Echte Männer zahlen keinen Unterhalt«. Diese Haltung ist leider in der Praxis für viele Kinder bittere Realität. Gestützt wird dies durch die Ausgestaltung des österreichischen Unterhaltsgesetzes, welches als löchrig und veraltet bezeichnet werden muss.

Ein schwaches Unterhaltsgesetz, mangelnde Daten und linke Leerstellen

Bis heute fehlen valide statistische Erhebungen über die tatsächliche Unterhaltslage. Eine solche Datenerhebung ist seit langem eine zentrale feministische Forderung. Umfragen zufolge bekommt rund ein Fünftel der Kinder überhaupt keinen Unterhalt und nur jedes zweite Kind erreicht die Höhe der Regelbedarfssätze. Letztere legen die Höhe der Kosten fest, die der Staat monatlich pro Kind vorsieht. Diese Sätze werden seit langem kritisiert, da sie auf einem fiktiven Warenkorb aus dem Jahre 1964 beruhen. Also zu einer Zeit, in der beispielsweise das Grundbedürfnis Wohnen nur einen Bruchteil der heutigen Kosten ausmachte. Kurz gesagt, sind die Regelbedarfssätze viel zu niedrig angesetzt und spiegeln keinesfalls die wahren Kosten von Kindern wider. Zudem liegt der Gestaltung der Regelbedarfssätze ein enormes Problem inne, denn sie stellen keineswegs ein Mindestmaß an erforderlichen Unterhaltszahlungen dar. Nach unten hin gibt es schlichtweg keine gesetzliche Grenze. Weiters kann der Unterhaltsvorschuss vom Zahlungspflichtigen jederzeit in einem Herabsetzungsantrag auf ein Minimum reduziert werden. Bis ein solches Prozedere gerichtlich ausverhandelt wird, dauert es meist viele Monate, in denen die Kinder wenig bis gar keinen Unterhalt erhalten. Kurz, Alleinerziehende können sich nicht auf die monatliche Zahlung verlassen. Ein anderer Aspekt dieser männlichen Bevorzugung lässt sich mit der sogenannten Playboygrenze veranschaulichen. Prinzipiell wird der Unterhalt einkommensabhängig berechnet und macht je nach Alter der Kinder zwischen 17–19 Prozent des Einkommens aus. Damit die Kinder vor einer »Überalimentierung« geschützt werden, gibt es eine gesetzliche Obergrenze, die bei Kindern unter zehn Jahren bei dem doppelten Regelbedarfssatz wirksam wird und bei Kindern über zehn Jahren beim 2,5-fachen. Alleinerziehende stehen also nicht nur einem reaktionär-konservativen Familienbild der österreichischen Bundesregierungen gegenüber, sie sehen auch, wie die Vernetzung der rechten bis rechtsextremen Väterbewegung massiven Einfluss auf politische Entscheidungen nimmt, nicht nur in Österreich. Vielen linken Gruppen ist die Gefahr von rechten Väterbewegungen nicht ausreichend bewusst. Sie haben weitreichende Strukturen aufgebaut, agieren mit unzähligen Trollen im Internet, hetzen gegen FLINT-Personen und betrachten Feminismus und feministische Errungenschaften wie Frauenhäuser als Bedrohung für die Gesellschaft. »Väter ohne Rechte« bieten in ihrem Lokal im 20. Bezirk regelmäßige Beratungen an. Sie sind eine wichtige Anlaufstelle für frustrierte Väter, die sich dort im misogynen, homophoben und rassistischen Weltbild weiter radikalisieren. Diese Gefahr muss ernst genommen werden. Die Probleme von Alleinerzieherinnen schaffen es selten in linke Gruppen, weil der ganze Alltag, die Belastung durch Alleinverantwortlichkeit, Geldsorgen, Stig-matisierung in Gesellschaft usw. aktives politisches Kämpfen schwer ermöglichen. Der Aufstand der Alleinerziehenden in Wien ist seit 2017 ein Versuch, Alleinerziehende und ihre politische Wut zusammenzubringen, sich gemeinsam zu wehren, dabei Aufmerksamkeit auf strukturelle Probleme zu lenken und – last but not least – Väterrechtlern in den Arsch zu treten.

Iris Hanebeck ist aktiv im Aufstand der Alleinerziehenden und arbeitet als Trainerin für das Mauthau-sen Komitee. Zuletzt schrieb sie in der Novemberausgabe der Volksstimme über das Bittstellen beim Corona Familienhärtefallfonds.

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Mit Gedichten und Engagement schrieb sich der Dichter zu Lebzeiten tief ins deutsch sprachige Gewissen des »kurzen« 20. Jahrhunderts, scheute aber auch nicht davor zurück, seine politischen Wegbegleiter*innen gehörig vor den Kopf zu stoßen. Gedanken zu einem Streitbaren.

Von Alex Hartl

Geboren am 6. Mai 1921 wächst Fried in einem jüdischen Elternhaus in Wien Alsergrund auf. Er gilt als »Wunderkind«, dichtet früh – bekannt ist sein Kinder - gedicht, das er mit sechs Jahren schreibt – und wäre um ein Haar ins Schauspieler-Ensemble von Max Reinhardt aufgenommen worden, wenn der Vater Reinhardts Angebot, Fried die dementsprechende Ausbildung zu bezahlen, nicht ausgeschlagen hätte. Als Schüler im renommierten Wiener Gymnasium Wasagasse hat er ebenso Linke als Klassenkolleg*innen (etwa die Hälfte der Schüler*innen war jüdisch) wie auch Mitglieder der im Austrofaschismus noch verbotenen Hitlerjugend. Aus den konkreten Erfahrungen in diesen Jahren zieht Fried eine für seine zukünftige Haltung zum politischen Fundamentalgegner bemerkenswerte Erkenntnis: Der jugendliche Nazi »ist nicht nur ein Nazi, sondern auch ein Junge mit allen Problemen eines Schuljungen«.1 Erinnerungen an diese Zeit wird Fried 1986 im Band Mitunter sogar Lachen sammeln. Die kritische Selbsterforschung der eigenen Vergangenheit und Prägungen (angelehnt an die Psychoanalyse) war ihm stets von großer Bedeutung.

Frieds Vater stirbt im Mai 1938 nach einem Gestapoverhör an den Misshandlungen, im Juli wird der Familie die Wohnung gekündigt, im August flieht Fried über Belgien nach England, wo er bei einer Freundin seiner Mutter, die er ein Jahr später nachholt, unterkommt. Rege literarische und organisatorische Tätigkeit in Exilant* innenorganisationen zeichnet sein Leben auf der Insel aus (u. a. bei Young Austria und dem Freien Deutschen Kulturbund). Über Wasser hält er sich mit Gelegenheitsarbeiten. 1943 tritt er aus dem Kommunistischen Jugendverband Österreichs, in dem er sich seit einiger Zeit engagierte, aus. Grund ist eine Debatte über die Aussage Ilja Ehrenburgs, der einzige gute Deutsche sei ein toter Deutscher. Fried ist diese Pauschalisierung trotz des Kriegskontexts zutiefst fremd – der Gruppe schlägt er den kollektiven Selbstmord in der Themse vor.

Rettung vor den »Schlagwortmagazinen«

Ebenso wie Jean Améry und viele andere vertriebene und gefolterte Intellektuelle kehrt Fried nach dem Krieg nicht nach Österreich zurück, leugnet aber nie seine tiefe innere Verbundenheit (An Österreich, 1944; später Einige Worte zu Österreichs kultureller Eigenart, 1984). Er veröffentlicht Gedichte in deutschen Verlagen, arbeitet an Zeitschriften und Zeitungen mit, übersetzt, schreibt seinen einzigen Roman (Ein Soldat und ein Mädchen, 1960). Einen Ruf an die Humboldt-Universität der DDR lehnt er aufgrund seiner antistalinistischen Haltung ab. Heimat findet er zunächst in der Gruppe 47 (ab 1963) vor, er wird zu einem frühen Proponenten der 68er und wendet sich mit Und VIETNAM und (1966) gegen den Vietnamkrieg. Fried findet mit dem Gedichtband eine »eigene Handschrift«, Harald Weinrich beurteilt ihn später als Wiederentstehung des politischen Gedichts in der BRD.2

Die politische Lyrik Frieds lebt durch den Bruch mit Denkschablonen, Schaffung von Assoziation durch Dissoziation. Formal steht er in linker Lyrik-Tradition, fügt aber auch Eigenes hinzu. So meidet er die strikte Freund-Feind-Schematik, die »Hohlheiten und Fühllosigkeiten«, gegen die er auch politisch auftritt. Fried möchte nicht »zu Ende« denken, ließe sich formulieren, wendet sich gegen Phrasenbildung – auch linke –, die für ihn eine Verhärtung darstellt: »Dichten ist ja nichts anderes, als die eigenen Gedanken und Gefühle so zu artikulieren, dass das sprachliche Klischee, die toten Worte und die toten Phrasen durch die Lebendigkeit der eigenen Artikulation wegfallen.«3 Seine Gedichte sind insofern immer »Äußerungen« und bewegen sich wesentlich stärker im Bereich des Gesprochenen als im Schriftlichen oder Anagrammatischen, weil sie an den Fluss der Sprache anknüpfen und in ihn fragend intervenieren. Beispiele für diese Interventionen sind der schon genannte Vietnamkrieg, Stammheim ebenso wie die Hinrichtung von Siegfried Buback durch die RAF, Paläs-tina, Nicaragua u.v.m. All das macht Frieds Werk zu einer der bedeutendsten Stimmen eines zeitlosen linken Dialogs.

Kompromisslos

Die Betonung liegt dabei auf »Dialog«, denn Fried war einer, der sich nie davor scheute, unbeliebte Positionen zu ergreifen und dafür auch mächtig einsteckte – von den bürgerlichen Medien ebenso wie von eigener Seite. So bezeichnete die FAZ Frieds Gedicht Auf den Tod des Generalbundesanwalts Siegfried Buback4 als »Mörderpoesie«, Die Zeit nannte ihn einen »dichtenden Verschwörungsneurotiker«. Unverständnis bei Weggefährten erzeugte Frieds Beziehung zum Neonazi Michael Kühnen. In einer Diskussionssendung im Jänner 1983, bei der sowohl Fried als auch Kühnen eingeladen waren, Letzterer aber spontan wieder ausgeladen wurde, beschwerte sich der Dichter: »Ob man ihn einladen soll oder nicht, darüber kann man streiten. Wenn man ihn eingeladen hat, ihn wieder auszuladen, ist ganz bestimmt falsch und kleinkariert.«5 Kühnen trat daraufhin mit ihm in Briefkontakt, in dem Fried versuchte, ihn von der Falschheit seiner Ansichten zu überzeugen, der aber in einem bemerkenswert herzlichen und freundschaftlichen Ton stattfand. Das Ganze ging so weit, dass sich der einst von den Nazis Vertriebene selbstständig anbot, für das Gericht eine Stellungnahme zugunsten des offenen Antisemiten und Röhm-Verehrers Kühnen zu schreiben.

Fried war keineswegs ein Querfrontler oder Versöhnler, aber er war nie ohne Hoffnung, dass sich auch das falsche Denken ändern ließe. Er unterschied, wenn die religiöse Diktion gegenüber dem Atheisten zulässig ist, in hohem Maße zwischen Sünder und Sünde, wie die Theologin Dorothee Sölle es in einem Nachruf formulierte.6 (Frieds Verhalten weist damit klare Parallelen zum christlich geprägten und befreundeten Rudi Dutschke auf, der einen kurzen Briefwechsel mit seinem Attentäter Josef Bachmann unterhielt.) Vielleicht ist das etwas, das bei aller Vorsicht gerade in der heutigen »Polarisierung« neu zu bedenken und nicht auf eine verstaubte Schrulligkeit der 68er abzuschieben sei? Erich Fried, jedenfalls, fehlt. Und das nicht nur für jene, die Liebesgedichte mögen.

1       Zit. n. Thomas Wagner: Der Dichter und der Neonazi. Erich Fried und Michael Kühnen. Eine deutsche Freundschaft. Stuttgart: Klett-Cotta 2021, S. 38.

2       Vgl. Christian Jessen, Volker Kaukoreit u. Klaus Wagenbach (Hg.): Erich Fried. Eine Chronik. Leben und Werk: Das biographische Lesebuch. Berlin: Wagenbach 1998, S. 69–71.

3       Zit. n. Gerhard Lampe: »Ich will mich erinnern / an alles was man vergisst«. Erich Fried – Biographie und Werk eines »deutschen Dichters«. Frankfurt/Main: Fischer 1998, S. 170.

4       Die Anschuldigungen, die jedoch nie revidiert wurden, kamen in erster Linie durch einen Satzfehler zu Stande. Statt »Es wäre besser gewesen / ein Mensch / hätte nicht so gelebt« fand sich im Erstdruck »[…] hätte nicht gelebt.«

5       Zit. n. Wagner: Der Dichter und der Neonazi, S. 8. 6 Vgl. Dorothee Sölle: Zum Tode Erich Frieds. In: Das Argument 173 (1989), S. 7f.

 

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Gedanken zur Allgegenwart von Digitalisierung.

Von Helga Wolfgruber

 

Ich wurde analog erzogen, habe keine virtuelle Körpergeschichte und Digitalis war in meiner Jugend ein Wort auf dem Beipackzettel des Herzmedikamentes meiner Großmutter. Anfang der 60er Jahre habe ich auf meiner sieben Kilo schweren Olympus Kofferschreibmaschine nach dem Zehnfingersystem tippen gelernt. Später hat der Kugelkopf einer elektrischen Schreibmaschine eine leichte Beschleunigung und bessere Tippfehlerkorrekturen zugelassen. Vervielfältigt wurde mittels Durchschlag, inklusive blauer Fingerabdrücke auf dem Original. Die Mechanik dieser Apparate war mir verständlich. Mein erstes Telefonat habe ich über Vermittlung des »Fräuleins vom Amt« geführt. Danach wurde die Bedienung einer Wählscheibe zu einem Akt der Selbstwirkamkeit, bevor Handy und Smartphone dieses Gefühl wieder zunichte gemacht haben. Die Undurchschaubarkeit der Technik nahm zu. Ich ahnte aber noch nicht, von wieviel Ärger und Gefühlen der Beschämung die Digitalisierung »meiner beruflichen und privaten Welt« begleitet sein würde. Und vor allem, wie viel Zeit-und Energieaufwand es bedeuten würde, zwischen Fortschrittsgläubigkeit und Kritik daran mich nicht als fremdbestimmte Nutzerin zu fühlen. In meiner Jugend wurden neben Zeitung, Radio und Fernsehen vorwiegend Personen als Medien bezeichnet, die mittels parapsychologischer Fähigkeiten mit fremden Welten in Verbindung treten konnten. Ein Bedeutungswandel des Wortes Medium als Mittel globaler, sozialer Kommunikation und Speicherung war noch nicht absehbar.

Neue verpixelte Welt

Wandel als historische Konstante schon von Jürgen Habermas in den 60er Jahren als »Strukturwandel der Öffentlichkeit« thematisiert, vollzog sich anfangs langsam, verwandelte aber in den letzten 15 Jahren unser aller Leben in einen sich ständig verändernden Datenstrom mit immer kürzer werdender Halbwertszeit. Zur oft kritisierten Ökonomisierung aller Lebensbereiche gesellte sich deren digitale Total-Vermessung und beeinflusst nicht nur kommunikative Kompetenz, sondern auch Sprache und alle menschlichen Ausdrucksformen. Ein »An-der-Maschine-Vorbeiexistieren«, wie der Medienkritiker Peter Schmitt es nennt, wird faktisch immer unmöglicher. Was es für eine Gesellschaft und ihre Verfasstheit bedeutet, wenn das Entfernte/die Welt, immer näher rückt, aber das Nahe/die Nähe körperlicher Präsenz und Kommunikation in die Ferne rückt, lässt sich auch von Zukunftsforscher*innen nicht vorhersagen. Vorhergesehen hat aber schon vor über 20 Jahren der Soziologe Georg Franck, dass »Aufmerksamkeit anderer Menschen die unwiderstehlichste aller Drogen« ist. Das scheint sich in exzessivem Verlangen nach Produktion von Selfies und in narzisstischen Selbstinszenierungen auf medialen Kanälen zu verdeutlichen. Gehorsame Nutzer*innen, die gegen normative Mitmachgebote nicht aufbegehren, verfallen oft in suchtartigen Internet- Gebrauch. Einleuchtend argumentiert der Psychoanalytiker Altmeyer, dass es sich bei diesem Resonanzverlangen keineswegs um ein Kunstprodukt der Medienwelt handelt, sondern um den Niederschlag eines frühkindlichen Grundbedürfnisses. Er bezieht sich dabei auf Winnicott, der in der Entwicklung des Kindes das Gesicht der Mutter als Vorläufer des Spiegels sieht. »Die Mutter schaut das Kind an, und wie sie schaut, hängt davon ab, was sie selbst erblickt [...] wenn ich sehe und gesehen werde, so bin ich.« Der regressive Sog spiegelt sich wider in einer infantilisierenden Sprache, die den Erzählstrom ganz dem verpixelten Zahlenstrom anzugleichen scheint. Allmachtsphantasien durch anonyme Kommnikation mit beinahe der ganzen Welt werden befeuert und schaffen illusionären Bedeutungsgewinn. Quälende Erfahrungen der Konkurrenz sind durch permanenten Vergleich garantiert.

Ersticken im Datenhaufen?

Der »digitale Schadstoffausstoß« sozialer Medien ist groß. Aggression, Entwertung, Rache, Lüge sind Bestandteile von fake-news und sorgen für eine emotionale Überhitzung und Radikalisierung der Öffentlichkeit. Diese Entwicklung kommt den Profiteur*innen sehr gelegen. Je mehr Nutzer*innen, desto mehr Nutzen für sie. Durch Zugewinn an Kapital und Macht erwerben Konzerne nicht nur die Kontrolle über Produktions-und Konsumverhältnisse, sondern übernehmen auch die Steuerung unseres gesamten zukünftigen Lebens. Digitalisierung sollte als Werkzeug verstanden sein, das im Dienste der Menschheit demokratisch von allen genützt werden kann und sich nicht als Bumerang erweist, der in einen »digitalen Imperialismus« (Ivonne Hofstetter) mündet. Die vielzitierte demokratische Freiheit (Macht über sich selbst) als Ausdruck von Autonomie kann ich in der algorithmischen Gefangenschaft nicht erkennen. Vielmehr sollte der Ausbeutung menschlicher Gefühle und der schamlosen Steuerflucht von Google, Facebook und Co. ein Riegel vorgeschoben werden.

Lebenslang lernen für den Profit?

Auch die Digitalisierung der industriellen Produktion birgt die Gefahr, dass Menschen irgendwann zu den Ausgeschlossenen zählen, wenn »die Arbeit verschwindet«. Sie verlangt eine hohe Bereitschaft zur Akzeptanz des Imperativs von »lebenslangem Lernen«. Mit dem paradoxen Ergebnis, dass zwar Arbeitsvorgänge durch digitale Automatisierung erleichtert werden, aber der Druck der Produktivitätssteigerung durch Beschleunigung der Arbeitsabläufe an die Arbeiter*innen weitergegeben wird. Das erfordert besonders von älteren Menschen eine enorme Adaptionsfähigkeit. Es geht dabei nicht nur um das von Bourdieu beschriebene »kleine Elend«, das jedem sozialen Feld bekannt ist, sondern auch, wie Neurobiolog*innen feststellen, um eine biologische Veränderung neuronaler Netzwerke unserer Gehirne. Die digitale Verschmelzung von Arbeits- und Freizeit zu einem Dauer-Online-Szenarium begünstigt psychische Erschöpfungszustände. Der hektische Austausch über Whats App, das Bestimmen des individuellen Marktwertes über Likes und Smileys sowie die Angst, etwas zu verpasssen oder verpasst zu werden, bedeuten für das Gehirn als »Integrationszentrum« von Hormon-, Nerven-, Immun- und Herz-Kreislaufsystem eine Herausforderung. Individuelle Antwort und Widerstand gegen das gesellschaftliche Tempo ist für Hartmut Rosa der Weg in die Leitkrankheit der Gegenwart, die Depression. Dann steht durch Verweigerung zumindest die innere Zeit still.

Alter gefährdet Teilhabe

In diesem Klima des Unbehagens, deutlicher und sichtbarer geworden durch die Pandemie, zeigen sich Spaltungsprozesse und Risse quer durch alle Bevölkerungsschichten. In besonderer Weise von der Ausdünnung des Analogen betroffen sind ältere Menschen. Sollte es zutreffen, dass es im höheren Alter zu »intellektuellem Appetitmangel« (Odo Marquard) kommt, bedeutet Lernen für eine immer größer werdende Gruppe von Menschen, zu essen, ohne Hunger zu haben. Aber das Bedürfnis nach Verbundenheit, Zugehörigkeit und gesellschaftlicher Teilhabe animiert dann doch zu digitaler »Nahrungsaufnahme«. Die Energie, die dafür verwendet werden muss, ist jedoch deutlich größer als bei jungen Menschen, die neuen Technologien gegenüber weniger »fremdeln«. Ihr Aufwachsen und Lernen war schon immer ein digitales. Das Altern auch als positiven Prozess der Entschleunigung wahrzunehmen, als »stufenweises Zurücktreten aus der Erscheinung«, wie J. W. Goethe es formulierte, wird durch Digitalisierung erschwert, hat aber auch Vorteile. Das aber nur dann, wenn Digitalisierung an die Bedürfnisse der immer älter werdenden Bevölkerung angepasst wird, und nicht umgekehrt. Das Deutsche Zentrum für Altersfragen hat auf die Bedeutung von PC und Smartphone-Apps hingewiesen und sie zwar als die neuen Kontrolleure bezeichnet, die aber das Leben in den eigenen vier Wänden lange möglich machen. Sie schaffen einen Ausgleich zum Mobilitätsverlust, leisten Dienste gegen Einsamkeit, ermöglichen Teilhabe am Weltgeschehen, vermitteln Wissen und bieten Gedächtnistraining an. Online-Dienste, dazu zählen auch Single-Börsen, können tatsächlich den Autonomieerhalt im Alter fördern und einen Beitrag zur Verbesserung der Lebensqualität leisten. Dass die Mehrheit der über 70-Jährigen noch nie im Netz war und von den über 80-Jährigen 90 Prozent immer offline sind, hat viele Gründe. Als erste Hürde erweist sich der fehlende Netzzugang in vielen ländlichen Gebieten. Eine bedienungsfreundlichere, weil einfachere Software könnte den Veränderungen im Alter (Abnahme des Kurzzeitgedächtnisses) gerecht werden und Vorbehalte verringern. Weniger Klicks auf der Nutzer*innenoberfläche würden den durch allzu viele Anglizismen angezeigten »Pfad zum Ziel« erleichtern. Nicht jeder*jedem Benutzer*in steht jederzeit ein sachkundiges, Englisch sprechendes Enkelkind zur Verfügung, um die digitale Ampel auf grün zu schalten. Untersuchungen zeigen, dass neben Armut, Alter und Bildungsmanko die fehlende Bedienungsfertigkeit die größte Barriere bei der Nutzung elektronischer Geräte darstellt.

Wer vermittelt Technikkompetenz?

Von demokratischer Teilhabe kann erst dann gesprochen werden, wenn Befähigungs- und Verwirklichung-schancen (Amartya Sen) eine befriedigende Nutzung ermöglichen und digitale Mündigkeit fördern. Damit die Arbeit am PC nicht zu einem Ringen um den richtigen Klick wird, ist der Ausbau professioneller Hilfestellung notwendig. Diese Hilfe wird z. B. in Bremen durch aufsuchende Digitalassistent* innen geleistet oder in Hamburg durch Medien- und Techniklots* innen. Bezahlt von öffentlicher Hand, unterstützen sie Einrichtung und Bedienung von Messenger-Diensten, Videotelefonen, sozialen Medien und Vernetzung von Nachbarschaftsplattformen. Angelehnt an die Politik der Commoners (Tauschen statt Haben wollen) entstehen in Deutschland »Caring Netzwerke«, die ebenso durch Technologie unter stützung das Leben vieler Menschen erleichtern. Digitalisierung ist allgegenwärtig und wirkt als Brandbeschleuniger eines globalen Kapitalismus. Die Folgen inkludieren Selbst-Ausbeutung der Menschen, Raubbau an der Natur bis hin zu »smarter« Kriegsführung. Kritik an diesen Schattenseiten ist notwendig, selbst wenn man dadurch als »Maschinenstürmerin« oder analoges Auslaufmodell bezeichnet wird.

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»Wir sind vom Ergebnis wirklich sehr enttäuscht …«

Die Überschrift ist ein Zitat und stammt vom MAN-Personalvorstand und Arbeitsdirektor Martin Rabe, nachdem die Abstimmung der Belegschaft nicht so ausging, wie er erhoffte.

Peter Haumer schreibt, wie es dazu kam

Die Belegschaft des MAN-Werks in Steyr in Oberösterreich hat in einer Urabstimmung am 7./8. April 2021 mehrheitlich gegen den Übertritt in die WSA Beteiligungs-GmbH von Siegfried Wolf gestimmt. Mehr als 60 Prozent stimmten gegen das Übernahmeangebot. Die MAN-Zentrale in München teilte nach dem Ergebnis mit, dass man nun die Schließungspläne bis 2023 weiterverfolgen werde. »MAN nimmt jetzt als Konsequenz die Pläne zur Schließung des Werks in Steyr wieder auf.«

Wegen des Übernahmeangebots, das andere Rahmenbedingungen für das Werk in Steyr vorgesehen hatte, wurde die Belegschaft vom Betriebsrat zur Urabstimmung aufgerufen. Mehr als 2.356 Beschäftigte waren stimmberechtigt, Leiharbeiter*innen ebenso wie das Stammpersonal. Die Beteiligung an der Urabstimmung lag bei 94 Prozent. Insgesamt gab es 2.188 gültige Stimmen, davon sprachen sich 63,9 Prozent gegen den Übertritt in die WSA Beteiligungs-GmbH von Ex-Magna-Chef Wolf aus, 34,9 Prozent dafür, 1,2 Prozent stimmten ungültig. Bei den Leiharbeitskräften soll die Ablehnung mit 71,4 Prozent höher gewesen sein als bei der Stammbelegschaft. Als eine der ersten (Straf-)Maßnahmen will daher MAN – trotz voller Auftragsbücher – die Anzahl der Leiharbeiter*innen von 278 in den nächsten Wochen um zunächst rund die Hälfte reduzieren. In einem weiteren Schritt will man sich auch von den übrigen Leiharbeiter*innen trennen.

Der strebsame Aufsteiger Wolf hatte sich »ungeteilte Zustimmung« gewünscht, zumindest aber zwei Drittel angepeilt. Die Belegschaft habe somit sein Konzept klar abgelehnt, sagte der neue Betriebsratsvorsitzende Helmut Emler. (Der alte Betriebsratsvorsitzende Erich Schwarz ist Anfang April in Pension gegangen und darf jetzt das Werksgelände nicht mehr betreten.) Die Betriebsratskörperschaft stand Wolfs Plänen abwartend bis skeptisch gegenüber. Das Konzept von Wolf sei zwar »schlüssig, die Einschnitte wären aber zu gravierend gewesen«. Das sah offenbar auch die Belegschaft so.

Dass MAN das Werk nun schließen will, ist für die Belegschaftsvertretung noch nicht gegessen: »Als Betriebsrat werden wir morgen beginnen, mit MAN das Gespräch zu suchen«, so Helmut Emler unmittelbar nach der erfolgten Auszählung. Die Schließung sei erst für 2023 vorgesehen, die Kunststofflackiererei, wo rund 400 Mitarbeiter*innen beschäftigt sind, hätte sogar bis 2027 weiter für MAN arbeiten sollen. Ziel des Betriebsrates sei eine Lösung wie in Deutschland, wo die ursprünglichen Sparpläne entschärft wurden.

Im Vorjahr war bekannt geworden, dass MAN im Zuge eines Rationalisierungsprogramms tausende Stellen einsparen will. Anfangs war von bis zu 9.500 der weltweit 36.000 Arbeitsplätze die Rede, mittlerweile sollen nur noch 3.500 in Deutschland vernichtet werden. Das Werk in Steyr stand allerdings recht bald »zur Disposition«. Erfolglose Verhandlungen der Belegschaftsvertretung folgten. Der Konzern beharrte weiter auf der Schließung bis 2023 oder einem Verkauf. Ende September kündigte MAN die bestehende Standortgarantie, die den Bestand des Unternehmens in Steyr bis zumindest 2030 hätte sichern sollen. Der Betriebsrat bemerkte bescheiden, sich eine Klage wegen der gekündigten Standortsicherung vorbehalten zu wollen. Die Erfolgsaussichten solch einer Klage sind sehr zweifelhaft und vielleicht auch deshalb wurde begleitend dazu ein Streikbeschluss gefasst; als letzte Möglichkeit, die hoffentlich – gängige Praxis in Österreich – nicht zur Anwendung gebracht werden müsse.

Schließlich trat Wolf als Interessent auf den Plan. Er wollte von der aktuell knapp 1.900 Personen zählenden Stammbelegschaft rund 1.250 Leute übernehmen, denen er allerdings eine bis zu 15-prozentige Gehaltskürzung versprach. Alle Betriebsvereinbarungen wären aufgekündigt worden und in Wolfs Konzept wäre auch die Zeitbemessung, die für jede Tätigkeit vorgesehen ist, weggefallen. Die Vorteile wären ausschließlich bei den Investor*innen gelegen.

Wenn es gut gegangen wäre und das Werk Personal gebraucht hätte, hätte Wolf welches aus dem Sozialplan zurückgeholt. Wolf plante, die Marke Steyr wiederzubeleben. Produziert werden sollten u. a. leichte Kastenwagen mit Dieselmotoren und Elektroantrieb sowie Pritschenwagen, Kastenwagen und mittlere Lkws zwischen sechs und zwölf Tonnen, von denen 10.000 Fahrerkabinen pro Jahr für das Automotive- Unternehmen GAZ nach Russland gegangen wären. Weiters sollten ein City-Bus mit Elektroantrieb und ein Bus für den Regionalverkehr gebaut werden. Nun – wenn es gut gegangen wäre und der Orden dekorierte Siegfried Wolf nicht diese Abstimmungsniederlage erlitten hätte.

»Wir sind vom Ergebnis wirklich sehr erfreut!«

Ob des Abstimmungsverhaltens der MAN-Belegschaft herrscht allgemeine Aufregung und Unverständnis im Lande. Jetzt könne man sich keine einvernehmliche Lösung mehr vorstellen, der geworfene Fehdehandschuh der Belegschaft (eigentlich sei er nur von den unvernünftigen und zu wenig aufgeklärten Arbeiter*innen geworfen worden) bedeute Krieg. Die Sozialpartner beeilten sich zu erklären, dass hoffentlich noch eine einvernehmliche Lösung, mit wem auch immer, zustande komme. Ein Runder Tisch wird angedacht, an dem auch Siegfried Wolf wieder Platz nehmen soll. Die SPÖ fordert gar eine Staatsbeteiligung, was zu heftigen Reaktionen, aber auch aufschlussreichen Diskussionen führte.

Verstehen wird vorgetäuscht, um sofort anzumerken, dass alles getan werde müsse, um das Geschehene ungeschehen zu machen. Einen von der Belegschaft erwiderten Klassenkampf könne man nicht brauchen. Die mehr als berechtigte Notwehr der Belegschaft wäre nur Öl ins Feuer gießen. Dass MAN der Brandstifter ist und Wolf nur billig abstauben wollte, hat offensichtlich keine Konsequenzen; der so naheliegende Gedanke, dass das MAN-Werk in die Hände der Belegschaft gehöre, selbstredend keinen Platz.

»Wir sind vom Ergebnis wirklich sehr erfreut!« So wollen wir es lautstark ausrufen, denn im Ergebnis dieser Urabstimmung drückt sich das Bewusstsein des Nicht-so-Seins wie die vermaledeiten Kapitalisten aus – hier in Person des Aufsteigers Wolf, aber auch der MAN-Bosse. Die MAN-Belegschaft in Steyr beginnt sich – zumindest einmal kurzfristig – als »eine Klasse gegenüber dem Kapital« (Marx) zu begreifen. Die Wiederaufnahme der Konfrontation mit dem MAN-Kapital durch das Beiseiteschieben des Siegfried Wolf könnte so zu einer Schule des Zusammenschlusses, der Solidarität, des Wirtschaftens und Verwaltens werden; es eröffnet die Möglichkeit der Rekonstruktion einer Vorstellung vom Anders-Sein, von einer Alternative zum Kapitalismus. Dies wird zusehends notwendig, wenn die Arbeiter*innenklasse die Unmöglichkeit einer dauerhaften Besserstellung im Kapitalismus und die Überwindung des Kapitalismus als dringende Aufgabe erkannt hat. Dann kann das negierende Nicht-so-Sein ersetzt werden durch ein positives Anders-Sein, und dann wird der Gedanke auch immer mehr Platz greifen können, dass das MAN-Werk eigentlich in die Hände der Belegschaft gehört.

In einem Diskussionsbeitrag in der Tages-zeitung Die Presse werden die Schließungspläne des MAN-Werkes in Steyr als Folge eines klassischen Marktversagens interpretiert. Um dieses Marktversagen auszugleichen, sollte die öffentliche Hand einspringen und aus dem MAN-Werk in Steyr einen zukunftsfähigen Standort machen. Möglichkeiten und Nachfrage wären vorhanden. Dabei gehe es aber nicht um eine reine Geldspritze. Vielmehr sollte eine Plattform geschaffen werden, auf der all jene Akteur* innen zusammenarbeiten, deren Wissen, Technologie und Fertigkeiten es für nachhaltige Transportsysteme braucht.

Doch der Fall Steyr ist nicht nur eine Konsequenz eines klassischen Marktversagens, sondern vielmehr die Folge des ganz normalen kapitalistischen Wahnsinns: des Zwanges zur Profitmaximierung, zum Konkurrenzkampf, zum Wachstum und einer Marktwirtschaft, die letztendlich den Rahmen dafür abgibt. Die Kapitalseite in Person des Siegfried Wolf und der MAN-Bosse formuliert ohne Skrupel ihre Konzepte; die Sozialdemokratie und ihr Umfeld spielt mit ihrer Staatsbeteiligung wieder einmal mehr Arzt am vermeintlichen Krankenbett des Kapitals und in all diesen Konzepten sind die Menschen, die bei MAN arbeiten (müssen) nur Manövriermasse. Es braucht tatsächlich eine Plattform, auf der all jene Akteur*innen zusammenarbeiten, deren Wissen, Technologie und Fertigkeiten es für nachhaltige Transportsysteme braucht. Und es braucht dazu eine demokratische Plattform, in der die Belegschaft des MAN-Werkes in Steyr das letzte Wort hat. Den sogenannten Sachzwängen einer in Wirklichkeit diktatorischen Marktwirtschaft sollte hier nicht nachgegeben werden, vielmehr sollten antikapitalistische Auswege aus einer vom Kapital verschuldeten Misere gesucht werden.

Aber davon sind wir noch weit, vielleicht zu weit entfernt. Die Widerstände, die eine solche Entwicklung zu verhindern suchen, sind groß. Die Belegschaft hat jetzt erste, wichtige Akzente gesetzt, sie hat die Gegenseite offensichtlich überrascht und sie hat tatsächliche Macht ausgeübt und die Kapitalist*innen und Manager*innen spüren lassen, was es heißt, Angst zu haben. Die Angst muss die Seite wechseln und in den Chefetagen Einzug halten. Der erste Schritt hierfür ist getan. Weitere sollten folgen. Wir unsererseits können versprechen, die MAN-Belegschaft bestmöglich in all ihren Bemühungen zu unterstützen. Keine Atempause. Geschichte wird gemacht. Das MAN-Werk in die Hände der Belegschaft!

Peter Haumer war im Laufe seiner beruflichen Laufbahn auch Arbeiter bei MAN in Wien-Liesing. Zudem verfasste er eine Biographie über Julius Dickmann sowie eine Geschichte der F.R.S.I., beide beim Mandelbaum Verlag erschienen.

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Ein Beitrag zur Diskussion und Reflexion über linke Politik heute.

Von Christian Fuchs

Digitaler Kapitalismus Der digitale Kapitalismus ist eine Dimension des Kapitalismus. Er bezeichnet die digitale Vermittlung der Kapitalakkumulation, der Arbeit, der politischen Macht, der Kultur, der Ideologie und der gesellschaftlichen Kämpfe. Der digitale Kapitalismus ist mit anderen Dimensionen des Kapitalismus verbunden, nämlich mit dem Finanzkapitalismus, dem globalen Kapitalismus, dem hyperindustriellen Kapitalismus, usw. Es gibt viele Gesellschaftsprobleme des digitalen Kapitalismus: Die computergestützte Automatisierung hat eingebettet in Klassenverhältnisse zur Ungleichverteilung der Arbeit geführt. Manche machen viele Überstunden, während andere arbeitslos oder prekär beschäftigt sind. Weitere Probleme sind zum Beispiel die Ausbeutung digitaler Arbeit, die Monopolmacht transnationaler digitaler Konzerne, die digitale Überwachung, der Mangel an Raum und Zeit zur Diskussion, die durch die Beschleunigung im Internet mitverursachte Oberflächlichkeit der Information und Kommunikation im Internet, die Fragmentierung der Öffentlichkeit durch die Boulevardisierung der Medien und die Schaffung von Online-Filterblasen, Rassismus und Faschismus online; die digitale Aufmerksamkeitsökonomie, in der Influencer dominieren, die Dauerwerbung als reguläre Inhalte präsentieren, die nicht als Werbung gekennzeichnet sind; die Verbreitung von Falschnachrichten und einer durch Ideologie und Emotionen getriebenen postfaktischen OnlineKultur, etc.

Digitaler Sozialismus als vollautomatisierter Luxus- Kommunismus?

Der digitale Sozialismus ist eine Alternative zum digitalen Kapitalismus. Rosa Luxemburg versteht unter Sozialismus eine »Gesellschaftsordnung, die auf Gleichheit und Brüderlichkeit der Menschen beruht« (RLW 5, 588). Die Grundlage des Sozialismus ist für Marx der »durch Aufhebung des Pri-vateigentums mit sich vermittelte Humanismus« (MEW 40, 583). Posthumanistische Kommunisten wie Aaron Bastani verbinden mit der Computerisierung die Hoffnung auf die Entstehung eines hochtechnologischen, vollautomatisierten Luxus-Kommunismus, der ein Reich des Überflusses ist und in dem es Luxus für alle gibt. Vollautomatisierung ist einerseits nicht möglich, da Maschinen fehleranfällig sind, was menschliche Werktätigkeit bedingt. Andererseits ist Vollautomatisierung auch nicht wünschenswert, da es bestimmte Tätigkeiten gibt, deren Automatisierung menschenfeindlich ist. Ein Roboterpsychotherapeut wäre zum Beispiel an sich eine Form der Entfremdung. Ein Robotersozialismus, wo Roboter Menschen ersetzen, ist einerseits nicht möglich und andererseits nicht wünschenswert. Der Sozialismus des 21. Jahrhunderts muss hingegen ein computer- und robotergestützter Sozialismus sein, in dem digitale Technologien den Menschen entlasten und unterstützen, die menschliche Tätigkeit und Kontrolle aber nicht ersetzen. Liebe kann man nicht automatisieren. Der Sozialismus erfordert technologische Grundlagen, aber Hightech allein reicht nicht aus. Das Leitprinzip des Sozialismus ist weder die Technik noch die Liebe zur Technik, sondern die Verallgemeinerung der Liebe zu einem gesellschaftlichen Prinzip.

Radikaler Reformismus im digitalen Zeitalter

Marx und Engels hatten einerseits die konkrete Utopie einer durch Klassenkampf erreichten sozialistischen Gesellschaft. Andererseits sahen sie auch, dass das Fernziel durch Nahziele einer Politik des radikalen Reformismus antizipiert werden muss, weswegen sie im Manifest der Kommunistischen Partei zehn konkrete politische Forderungen formulierten, die zentral für die damalige linke Politik waren. Wir brauchen heute ein Äquivalent des Manifests, seiner Politik und seiner Forderungen für das 21. Jahrhundert. Ein Element linker Digital- und Medien-politik kann die Forderung nach der Vergesellschaftung/Verstaatlichung von Google und ähnlichen Unternehmen sein, Google könnte durch ein Netzwerk öffentlicher Universitäten betrieben werden. Eine radikale Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich ist eine adäquate Antwort auf den durch den technischen Fortschritt vorangetriebenen Widerspruch zwischen computerisierten Produktivkräften und Klassenverhältnissen, wodurch die Aufhebung der ungleichen Verteilung der Arbeit sowie die Reduzierung der gesellschaftlich notwendigen Arbeit möglich ist. Wissen, Wissenschaft, technischer Fortschritt, Reproduktionsarbeit, Naturkräfte, Kultur und das Sozialsystem sind vom Kapital gratis benutzte Ressourcen. Die Gratisnutzung von gesellschaftlich produzierten Gütern ermöglicht die Forderung nach einem durch Kapitalbesteuerung finanzierten, bedingungslosen Grundeinkommen. Das bedingungslose Grundeinkommen ist ein gesellschaftlicher Lohn für die gesellschaftliche Arbeiterklasse. Zur gesellschaftlichen Arbeiterklasse gehören neben Lohnarbeitenden unbezahlte und prekäre Arbeiter*innen, Hausarbeiter*innen, Prosument* innen, Konsumarbeiter*innen, die Crowd- Arbeit, die Zuschauerarbeit, die digitale Arbeit usw. Kapitalbesteuerung ist ein zentrales Element linker Politik. Das Kapital wird als Folge des Neoliberalismus viel zu wenig besteuert, wodurch die Ungleichheit zugenommen hat. Wir brauchen eine stärkere Besteuerung großer Konzerne, wozu auch die Einführung einer Steuer auf digitales Kapital gehört. EU-weite Versuche sind bisher gescheitert. Das Konzept der digitalen Betriebsstätte ist dabei von Bedeutung.

Gewerkschaften und Klassenkämpfe im digitalen Zeitalter

Für Marx ist der Sozialismus »die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt« (MEW 3, 35). Klassenkampf, Streiks, Protestbewegungen, Partei und Gewerkschaften sind wichtig für linke Politik. Traditionelle Gewerkschaften haben Probleme mit der Vertretung und Organisierung atypischer Arbeitskräfte wie Freiberufler*innen. Einige Gewerkschaften haben gar nicht die Absicht, Freiberufler*innen zu vertreten, weil sie diese als Kapitalist*innen betrachten. Die Kommunistin Clara Zetkin schrieb angesichts des Aufstiegs der Frauenbewegung im späten 19. Jahrhundert, dass »die Gewerkschaftsbewegung geradezu einen Selbstmord« begeht, »wenn ihre Bestrebungen, die indifferente Masse des Proletariats zu gewinnen, die Arbeiterinnen nicht ebenso viel berücksichtigen wie die Arbeiter«. Im 21. Jahrhundert begeht die linke und gewerkschaftliche Bewegung Selbstmord, wenn unbezahlte, unterbezahlte und digitale Arbeit nicht berücksichtigt werden. Die digitale Arbeiterschaft sollte nicht als Unterorganisation traditioneller Gewerkschaften organisiert werden, sondern als Gewerkschaft digitaler Arbeiter*innen, die Gegenmacht zum transnationalen digitalen Kapital aufbaut und ausübt. Im Plattformkapitalismus ist die App das zentrale Produktionsmittel. Uber beutet Taxifahrer* innen aus, indem es die zugrundeliegende App monopolisiert und einen relativ großen Prozentsatz des Preises jeder Taxifahrt kassiert. Ein Streik von Uber-Fahrer*innen funktioniert im Idealfall so, dass es eine digitale Gewerkschaft der Digitalarbeiter*innen gibt, die eine gewerkschaftskontrollierte Konkurrenz-App entwickelt. Ein Streik der Uber-Arbeiter*innen bedeutet dann, dass sie mit ihren Taxis weiterfahren und die Gewerkschafts-App verwenden, wodurch Ubers Profite leiden. Dieses Handeln übt dann Druck auf Uber aus, um Forderungen durchzusetzen, wie jene nach einem globalen Mindestlohn von 15 US$/Euro pro Stunde für Plattformarbeitende (exklusive Investitionskosten). Das Internet ist eine Konvergenztechnologie, die tendenzielle Konvergenz von Produktion/Konsum, Arbeitszeit/Freizeit, Öffentlichkeit/Privatheit, Büro/Zuhause, usw. unterstützt. Daher sind im digitalen Kapitalismus Überwachung, Verletzung der Privatsphäre, Datenschutzverletzungen, Konsumentenschutzfragen Klassenfragen und Aspekte der digitalen Arbeit. Die heutige linke Politik braucht daher eine Konvergenz von Gewerkschaften, Arbeiterbewegung, Konsumentenschutzorganisationen, Datenschutz und Menschenrechtsorganisationen.

Linke Plattformpolitik

Die linke Medien- und Digitalisierungspolitik muss auch darüber nachdenken, wie Alternativen zu Google, Facebook, Amazon, Netflix, etc. erreicht werden können. Ein Vorschlag dazu ist, dass man Plattform- Kooperativen gründet. Plattform-Kooperativen sind selbstverwaltete Internetplattformen, die im Besitz der Nutzer*innen und digitalen Plattformarbeiter*innen stehen. Beispiele dafür sind die Musikplattform Resonate (Alternative zu Spotify), die alternative Mietplattform Fairbnb (Alternative zu Airbnb) oder Taxiapp (Alternative zu Uber). Plattformkooperativen sind wie die meisten Alternativmedien fair, demokratisch, nett – aber klein, unbedeutend, machtlos, ressourcenarm, prekär. Die Geschichte der Alternativmedien ist eine Geschichte der Marginalisierung, der fragmentierten Öffentlichkeit und der selbstausbeuterischen, unbezahlten, prekären Freiwilligenarbeit. Kooperativen können nicht so einfach mit dem Problem zurechtkommen, dass sie im Kapitalismus beim Warenverkauf mit kapitalistischen Konzernen konkurrieren. Eine weitere Form der Alternativen zum digitalen Kapital sind öffentlich-rechtliche Internetplattformen, also Plattformen, die von Organisationen wie ORF, ARD und BBC betrieben werden. Solche Medien haben einen öffentlich-rechtlichen Auftrag und sind nichtkapitalistisch. Derzeit ist es rechtlich nicht möglich, dass öffentlich-rechtliche Medien zu öffentlich-rechtlichen Internetplattformen werden. Zum Beispiel verbietet der Paragraph 4f des ORF-Gesetzes, dass der ORF 28 verschiedene Online- Plattformen anbietet. Linke Medien- und Digitalpolitik kann vieles tun, um die Rolle der öffentlich-rechtlichen Medien in der Gesellschaft und damit die Demokratie und die Öffentlichkeit zu stärken. Durch öffentlich-rechtliche Internetplattformen würden viele neue, innovative, demokratiestärkende Medienformate möglich, wie zum Beispiel ein öffentlich-rechtliches, nichtkapitalistisches YouTube ohne Werbung oder eine neue Form des Club 2 im Internetzeitalter, der Club 2.0.

Die Kommunikation des Sozialismus in Zeiten der Digitalisierung

Linke Aktivist*innen, Bewegungen und Parteien tun sich oft schwer mit der Kommunikation des Sozialismus in eine große Öffentlichkeit. Das hat einerseits mit politischer Marginalisierung zu tun, mit Ressourcenmangel linker Projekte innerhalb des Kapitalismus und der kapitalistischen Öffentlichkeit und dem Backlash gegen linke Ideen. Andererseits gibt es aber auch einen Mangel an adäquaten linken Kommunikationsstrategien. Linke Publikationen sind oft ästhetisch unattraktive Bleiwüsten. Noch schlimmer ist es, wenn linke Aktivist*innen versuchen, diese Bleiwüsten auf öffentlichen Plätzen oder vor Fabriken an Mitglieder der Arbeiterklasse zu verkaufen. Es gibt linke Medienprojekte, die vielversprechend sind und Ästhetik, Design, Infografiken, Visualisierung der Kapitalismus-kritik und des Sozialismus, soziale Medien, YouTube, Podcasts, Populärkultur, Satire, Online-Talkshows etc. als sozialistische Kommunikationsmittel einsetzen. Beispiele dafür sind die Online-Präsenz von Novara Media, die Druck- und Onlineformate von Jacobin, sozialistische Influencer wie ContraPoints, Philosophy Tube oder hbom-berguy, Democracy Now! oder Adbusters. Die Linke braucht außerdem mehr kritische organische Intellektuelle des Internetzeitalters wie Slavoj Žižek und Cornel West, die Redekunst, linke Theorie, sozialistische Politik, Witz und Unterhaltung kombinieren.

Sozialismus als Klassenkampf- Sozialdemokratie!

Klassenkämpfe, Streiks, Gewerkschaften, linke Bewegungen und Parteien sind mit der Komplexität und den Widersprüchen des digitalen Kapitalismus konfrontiert, wodurch sich alte Fragen nach politischer Strategie und Organisation in neuer Form stellen. Wir brauchen heute eine Erneuerung der Sozialdemokratie im Sinn von Rosa Luxem-burg als Klassenkampf-Sozialdemokratie, die für den demokratischen Sozialismus des 21. Jahrhunderts kämpft. Medien-, Kommu-nikations- und Digitalpolitik ist nicht der einzige Inhalt linker Politik, aber eine wichtige Dimension dieser. Der digitale Sozialismus als Strategie und Inhalt linker Politik muss Teil einer Klassenkampf- Sozialdemokratie sein, die Kämpfe zur Stärkung der Öffentlichkeit, der öffentlichen Dienste und der Gemeingüter führt. Digitaler Sozialismus ist heute möglich, da der demokratische Sozialismus möglich und notwendig ist.

Christian Fuchs ist Professor für Medien- und Kommunikationswissenschaft an der University of Westminster in London, wo er Direktor des Communication and Media Research Institute (CAMRI) ist, an dem seit den 1970er- Jahren Pionierarbeit zur Entwicklung des Ansatzes einer politischen Ökonomie der Medien und der Kommunikation geleistet worden ist. Fuchs ist Herausgeber der Zeitschrift tripleC: Communication, Capitalism & Critique und Autor von ca. 400 wissenschaftlichen Arbeiten.

Zu seinen aktuellsten Büchern zählen:

Das digitale Kapital: Zur Kritik der politischen Ökonomie des 21. Jahrhunderts (Mandelbaum, 2021),
Soziale Medien und Kritische Theorie (2. Auflage, utb, 2021),
Marxist Humanism and Communication Theory (Routledge 2021),
Kommunikation und Kapitalismus: Eine kritische Theorie (utb 2020),
Marx heute: Eine Einführung in die kritische Theorie der Kommunikation, der Kultur, der digitalen Medien und des Internets (utb, 2020).

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Kleine Geschichte der Revolutionstheorie(n) nach der Pariser Kommune

von Michael Graber

Marx und Engels waren seit dem Kommunistischen Manifest im Unterschied zu den Anarchist*innen der Überzeugung, dass das Proletariat, um den Kapitalismus überwinden zu können, die politische Macht erobern müsse. Strategie und Taktik des politischen Kampfes waren seither Bestandteil des wissenschaftlichen Sozialismus. Revolutionstheorien bildeten deshalb auch jeweils das Kernstück der Programmatik revolutionärer Parteien, insbesondere der kommunistischen. Eine gute Theorie stützt sich auf die möglichst umfassende Analyse aller Faktoren, die die Gesellschaft prägen und ihre Entwicklung bestimmen: Stellung und Strukturen der Klassen und deren Kräfteverhältnisse, Eigentumsverhältnisse, die Rolle des Staates in Wirtschaft und Gesellschaft, Parteien und vorherrschende Ideologien, historische und kulturelle Besonderheiten, die internationale Entwicklung u. a.

Trotzdem gelten Brechts Worte:

Ja, mach nur einen Plan,
Sei nur ein grosses Licht!
Und mach dann noch ‚nen zweiten Plan,
Gehn tun sie beide nicht.

Revolutionen fanden und finden selten nach vorgefertigten Plänen statt und ergeben auch nicht immer das erwünschte Resultat. Kommunistische Parteien haben immer versucht, das Element der Spontaneität durch Organisation auszugleichen oder glaubten, es kontrollieren zu können.

Diese Skizze beschränkt sich auf die theoretischen Ansätze im Mainstream kommunistischer Parteien in Europa. Antikoloniale und antiimperialistische Befreiungsbewegungen bleiben hier außen vor.

Nach der Pariser Kommune präzisierten Marx und Engels ihre Auffassung, dass das Proletariat für seine Zwecke nicht einfach den vorgefundenen Staatsapparat übernehmen könne, sondern diesen zerschlagen und einen neuen Staat aufbauen müsse, wie das die Kommune u.a. durch die Auflösung des stehenden Heeres, die Abschaffung der Polizei und der bürgerlichen Justiz und durch die Schaffung eigener funktionsfähiger Organe, deren Mitglieder jederzeit abwählbar waren, demonstriert hatte.

Krieg und Revolution

Friedrich Engels kam gegen Ende der 80er Jahre des 19. Jahrhunderts durch die gesellschaftlichen Veränderungen, ausgelöst durch die Revolution von 1848, zu dem Schluss, dass sozialistische Revolutionen nicht mehr aus der »Überrumpelung« kleiner Gruppen entstehen, sondern nur durch das Tätigwerden der Massen. Er stellte als erster einen Zusammenhang zwischen den Kriegen der Großmächte und proletarischen Revolutionen her: Es ist »kein anderer Krieg für Preußen-Deutschland mehr möglich als ein Weltkrieg … Acht bis zehn Millionen Soldaten werden sich untereinander abwürgen … Die Verwüstungen des Dreißigjährigen Krieges zusammengedrängt in drei bis vier Jahren und über den ganzen Kontinent verbreitet … Hungersnot, Seuchen, allgemeine Verwilderung der Heere wie der Volksmassen ... Zusammenbruch der alten Staaten und ihrer traditionellen Staatsweisheit ... absolute Unmöglichkeit vorherzusehen, wie das alles enden und wer als Sieger aus dem Kampf hervorgehen wird; nur ein Resultat absolut sicher: die allgemeine Erschöpfung und die Herstellung der Bedingungen des schließlichen Siegs der Arbeiterklasse ...« (MEW 21, S.350f.)

Als kaum dreißig Jahre später tatsächlich der Erste Weltkrieg entfesselt wurde, orientierte Lenin darauf, den Krieg in einen Bürgerkrieg zu verwandeln, um ihn zu beenden und dem Proletariat zum Sieg zu verhelfen. Auf der Basis seiner Analyse des imperialistischen Weltsystems sah er zum Unterschied von Marx und Engels der 1848er Jahre die Möglichkeit eines Sieges einer sozialistischen Revolution nicht in erster Linie in den entwickelten kapitalistischen Ländern, sondern in Russland als dem »schwächsten Kettenglied« des damaligen imperialistischen Weltsystems. Diesen allerdings als Auftakt eines weltrevolutionären Prozesses, der auch die entwickelten kapitalistischen Länder Europas, insbesondere auch Deutschland, erfassen sollte, ein Gedanke, den schon Marx und Engels äußerten.

Lenin setzte allerdings nicht ausschließlich auf den bewaffneten Aufstand. In bestimmten Momenten der revolutionären Entwicklung in Russland 1917 hielt er einen friedlichen Übergang zu sozialistischen Machtverhältnissen (»alle Macht den Sowjets«) für möglich. Und im Sommer 1917 erwog er die Möglichkeit einer »revolutionären Demokratie« als Übergangsform, die den »staatsmonopolistischen Kapitalismus« in den Dienst einer sozialistischen Entwicklung stellen könnte. Unter »staatsmonopolistischem Kapitalismus« war die enge Verbindung und Verflechtung von Staat und Konzernen, dem monopolistischen Kapital zu verstehen, die insbesondere durch die Kriegswirtschaft entstanden war.

Eine Wende: Antifaschistische Bündnisse

Nach der Stabilisierung des Kapitalismus in Europa und dem Aufkommen des Faschismus und dessen Sieg in mehreren europäischen Ländern war eine neue theoretische Konzeption erforderlich, die nicht von der Möglichkeit einer unmittelbaren revolutionären Umwälzung, sondern von der Verteidigung bzw. Erkämpfung der bürgerlichen Demokratie als entscheidender Etappe einer strategischen Neuorientierung ausging. Es entstand 1935 in der Kommunistischen Internationale das Konzept der Volksfront, die den weiteren Vormarsch des Faschismus in Europa stoppen sollte, was zunächst in Frankreich und Spanien gelang. Dies bedeutete eine wesentliche Umorientierung und Erweiterung der Bündnispolitik kommunistischer Parteien, weil sie alle antifaschistischen Kräfte aus allen Klassen und Schichten der Bevölkerung erreichen sollte. Aus dieser Konstellation entstand auch das Konzept der Errichtung antifaschistisch-demokratischer Ordnungen als Ergebnis der Niederschlagung des Faschismus und als Ausgangspunkt einer Öffnung eines Wegs zum Sozialismus, wie er zunächst auch in Osteuropa, gestützt auf die siegreiche Sowjetunion, gegangen, aber auch 1974 in Portugal nach dem Sturz des faschistisch-kolonialistischen Regimes von der dortigen KP versucht wurde.

In den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts tauchte in der kommunistischen Bewegung wieder der Begriff des staatsmonopolistischen Kapitalismus auf, den Lenin 1917 kurzzeitig verwendete. Ausgangspunkt dafür war die große Rolle, die der Staat in den kapitalistischen Ländern Europas in der Nachkriegszeit und weit danach in der Wirtschaft spielte. Große Teile der Grundstoff- und verarbeitenden Industrie waren verstaatlicht, ebenso große Bereiche der Banken und des Finanzkapitals. Unter dem Einfluss des »realsozialistischen« Machtbereichs wurde keynesianische Wirtschaftspolitik, gestützt auf korporatistische, sozialpartnerschaftliche und fordistische Strukturen in Wirtschaft und Gesellschaft mit bedeutenden sozialen Zugeständnissen und Reformen betrieben. Französische marxistische Theoretiker*innen ordneten dem Staat die Funktion der Entwertung überschüssigen Kapitals zu, um die Akkumulation des Monopolkapitals zu stabilisieren und zu beschleunigen.

Revolutionäre Demokratie unter neuen Vorzeichen

Als Strategie ergab sich daraus die Orientierung auf eine »antimonopolistische Demokratie« auf nationalstaatlicher Basis. Durch die Isolierung und Entmachtung des Monopolkapitals und die wirtschaftlich und sozial sinnvolle Nutzung staatlicher Funktionen durch ein Bündnis aller antimonopolistischen Klassen und Schichten sollte die Möglichkeit zu einer sozialistischen Entwicklung eröffnet werden. Diesem Konzept wurde spätestens durch den Übergang zum privatkapitalistischen, neoliberalen, finanzgetriebenen Kapitalismus einerseits und andererseits dem Wegfall der osteuropäischen sozialistischen Länder mit der Sowjetunion als Machtfaktor, auf die sich das Konzept unausgesprochen gestützt hatte, der Boden entzogen. Und damit auch den Konzepten des Eurokommunismus.

Erst in den 70er Jahren wurde in den kommunistischen Parteien außerhalb Italiens begonnen, Gramsci zu rezipieren. Antonio Gramsci war Mitbegründer der Kommunistischen Partei Italiens, ihr Vorsitzender und herausragender Theoretiker. Er entwickelte im faschistischen Gefängnis eine differenziertere Sicht auf Staat und Gesellschaft, als es bis dahin im Kanon der kommunistischen Bewegungen der Fall war. Seine wichtigste Schlussfolgerung war, dass im Unterschied zur Oktoberrevolution, die aus einem »Bewegungskrieg« hervorging und unmittelbar den bürgerlichen Staat beseitigte, in Europa ein »Stellungskrieg« notwendig sei, der auf lange Sicht die Kräfteverhältnisse in der Gesellschaft derart verändert, dass eine revolutionäre Perspektive möglich wird.

Gramsci: Kampf um Hegemonie

Im Unterschied zur Struktur des Staates im Russland der Oktoberrevolution stütze sich der Staat in den entwickelten kapitalistischen Ländern nicht nur auf die politischen Machtorgane, Regierung, Verwaltung, Polizei und Justiz, sondern auf eine breit gefächerte Zivilgesellschaft, die dem Staat vorgelagert ist und die bürgerliche Gesellschaft umfasst. Die herrschende Klasse zu isolieren und zu entmachten sei letztlich nur möglich, wenn es gelänge, deren politische, ideologische und kulturelle Hegemonie in der Zivilgesellschaft zu überwinden. Dazu sind auch Stützpunkte von Gegenmacht erforderlich. Die Realitätsbezogenheit dieses Ansatzes erwies sich unter umgekehrten Vorzeichen in Osteuropa, wo die regierenden kommunistischen Parteien lange vor ihrem Machtverlust diese Hegemonie in der Gesellschaft verspielt hatten, (wenn sie diese überhaupt jemals besaßen) und im Wesentlichen auf den Staatsapparat reduziert bzw. mit ihm verschmolzen waren.

Das Scheitern der 1968er Bewegung, die in Frankreich Staat und Gesellschaft erschütterte, aber auch das übrige Europa beeinflusste, war nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass es keine politische und gesellschaftliche Kraft gab, die über ein theoretisch fundiertes, strategisches Konzept verfügte, das das Hinüberwachsen der massenhaften Revolte in eine revolutionäre Bewegung ermöglichte, auch wenn deren Erfolgschance aufgrund der herrschenden Kräfteverhältnisse in Europa gering war.

Zweifellos müssen heutige Überlegungen zur Überwindung des Kapitalismus die Differenziertheit der Arbeiterklasse, die Vielfalt sozialer Bewegungen, die Überwindung des Patriarchats, ökologische Nachhaltigkeit, die fortgeschrittene europäische Integration, die Dominanz des Finanzkapitals und andere neuere Faktoren in der Entwicklung des Kapitalismus einbeziehen.

Die KPÖ orientiert sich heute als strategisches Etappenziel auf eine »Solidarische Gesellschaft«. Der Weg dorthin, wie ihn die KPÖ für ihren kommenden Parteitag formuliert, ist ein langer und gehört mit allen damit verbundenen Widersprüchen, aber auch Erfahrungen zum Anspruch ihrer über 100-jährigen Geschichte. Es gilt, sich auf mögliche dramatische Entwicklungen in Europa einzustellen und vorzubereiten.

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Peter Haumer über Louise Michel (1830– 1880), Aktivistin und Chronistin der Pariser Kommune

Louise Michel wurde am 29. Mai 1830 als uneheliches Kind eines einfachen Landmädchens und des Sohnes des Schlossbesitzers im Schloss Broncourt geboren. Zu ihrer Mutter, der sie auch ihre 1886 erstmals erschienenen Memoiren widmete, verbindet sie ihr Leben lang eine innige Beziehung. Sie erhält 1852 ihr Diplom als Lehrerin und eröffnet, um dem Amtseid zu entgehen, eine »freie Schule« in einem Dorf. Nach einem Jahr endet dieses Projekt. Sie nimmt eine Stelle als Aushilfslehrerin an. In dieser Zeit schreibt sie bereits mehrere regierungskritische Artikel. Sie gründet erneut eine »freie Schule«, die sie nach ein paar Monaten wieder aufgibt. Schließlich tritt sie 1856 in Paris eine Stelle als Hilfslehrerin in einem Internat an.

Um 1860 beginnt sie ihr Abitur nachzuholen. Einer der Lehrer gibt zusammen mit einigen Student:innen unentgeltlich an einer Schule Unterricht – Louise Michel ist eine von ihnen. In der Schule macht sie Bekanntschaft mit der Gruppe Frauenrecht (Droits des Femmes). »In der Gruppe Droits des Femmes wie überall dort, wo die fortschrittlichsten Männer den Ideen von der Gleichheit der Geschlechter Beifall zollen, konnte ich feststellen, dass sie uns nur scheinbar unterstützten; in Wirklichkeit halten sie an ihren alten Gewohnheiten und Vorurteilen fest. Bitten wir also nicht um unsere Rechte, nehmen wir sie uns.« Sie schreibt eine Reihe von Artikeln und wird 1868 Sekretärin der Société démocratique de moralisation. Sie nähert sich den Blanquisten und der Internationale an und beteiligt sich mit Gedichten und Artikeln am politischen Kampf.

Als es 1871 zum Aufstand der Pariser Kommune kommt, ist sie aktiv an den Kämpfen beteiligt. Über die Ereignisse am 18. März schreibt sie: »Im Morgengrauen hörte man die Glocken Sturm läuten. Wir stiegen, die Gewehre im Anschlag, den Hügel wieder hinauf; wir wussten, dass uns oben eine kampfbereite Armee erwartete. Wir dachten, wir würden für die Freiheit sterben. Man fühlte sich schwebend. Wenn wir tot wären, würde Paris sich erheben. Manchmal sind die Massen die Avantgarde. Der Hügel war in weißes Licht getaucht, ein wunderbares Morgendämmern der Erlösung.« Die Regierung flieht nach Versailles und erklärt der Kommune am 1. April den Krieg. Louise Michel baut in der Zeit ein Frauenbataillon auf und kämpft mit der Waffe in der Hand für die Revolution. Das Amtsblatt der Kommune ist vollen Lobes für dieses Bataillon. Sie selber wird in diesem Artikel als »tatkräftige Frau« gewürdigt, die mehrere Gendarmen und Polizisten getötet habe. Das Schießen hat sie bereits auf dem Rummelplatz ein paar Jahre zuvor gelernt. »Wir beschlossen, für unsere Stadt zu kämpfen, weil es die alte Regierung nicht tat. Ich war eine der vielen Frauen, die Paris verteidigten und die Verwundeten pflegten; während der gesamten Kommunezeit verbrachte ich nur eine Nacht bei meiner Mutter. Diese Nacht zwischen dem 18. März und meiner Verhaftung im Mai war die einzige, die ich im Bett verbrachte.«

Todesurteil und Verbannung

Nur 72 Tage lang hält sich die Kommune, danach überrollt die Reaktion die Aufständischen und rächt sich fürchterlich. Louise Michel entkommt anfangs den Truppen, die daraufhin ihre Mutter festsetzen und mit ihrer Erschießung drohen. Louise Michel stellt sich. Ihre Mutter kommt frei; ihr selbst wird die Erschießung angedroht. Letztendlich wird sie vor ein Kriegsgericht gestellt. »Ich will mich nicht verteidigen, und ich will nicht verteidigt werden. Ich übernehme die Verantwortung für alle meine Taten. [...] Man wirft mir vor, Komplizin der Kommune gewesen zu sein. Selbstverständlich war ich das, denn die Kommune wollte vor allem die soziale Revolution, und die soziale Revolution ist, was ich mir am sehnlichsten wünsche«, verkündete die damals 41-jährige Louise Michel auf die Anschuldigungen vor dem Kriegsgericht. Der Prozess wegen Aktivitäten im Rahmen der Pariser Kommune endete für sie mit dem Todesurteil. Sie wird aber nicht erschossen, sondern nach Neukaledonien verbannt, wo sie bis zu einer Generalamnestie 1880 lebt. Auf dem Weg ins Exil in Neukaledonien wird sie nach eigenen Angaben zur Anhängerin des anarchistischen Kommunismus. In dieser Zeit beschäftigt sie sich mit der Sprache und Kultur der Einheimischen. 1878 kommt es zu einem Aufstand der Ureinwohner Neukaledoniens, der Kanaken. Michel erklärt sich solidarisch mit dem Aufstand: »Auch sie kämpfen für ihre Unabhängigkeit, für ein selbstbestimmtes Leben, für ihre Freiheit. Ich bin auf ihrer Seite, so wie ich auf der Seite des Volkes von Paris stand.«

Bei ihrer Rückkehr nach Frankreich wird sie gefeiert. Sie setzt ihren Kampf für die soziale Revolution und die Emanzipation der Frauen fort. Am 9. Januar 1905 verstirbt sie in einem Hotelzimmer in Marseille. Mehr als 100.000 Menschen geben ihr bei der Beisetzung in Paris am 20. Januar das letzte Geleit.

1895 hat Louise Michel ihr Buch La Commune ihrem Verleger übergeben. Sie wollte mit ihren Aufzeichnungen über die Pariser Kommune möglichst vielen ihrer Mitstreiter und Mitstreiterinnen ein Denkmal setzen. Endlich liegt La Commune in deutscher Übersetzung vor. Es sei an dieser Stelle Veronika Berger, Eva Geber und dem Mandelbaum Verlag gedankt, dass mit diesem Erlebnisbericht eine der aufregendsten Gestalten der Pariser Kommune in deutscher Übersetzung vorliegt. »Sie will dem Vergessen entgegenwirken, vor allem will sie zukünftigen Generationen ein Vermächtnis hinterlassen, damit sie verstehen, lernen und manche Fehler nicht mehr machen müssen; aber auch damit sie glauben können: an den Fortschritt der Menschheit, an ihren Mut, an die Kraft, mit der Völker wieder aufgestanden sind, aufstehen und aufstehen werden, um gegen Unrecht zu kämpfen«, schreibt die Übersetzerin Veronika Berger im Vorwort.

Louise Michel, Die Pariser Commune, Mandelbaum Verlag 2020, 416 Seiten

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