Burnout – ein Leiden an der Arbeit? Volksstimme Redaktion Orig. Foto: Chris Isherwood CC BY-SA 2.0 / Flickr
10 Oktober

Burnout – ein Leiden an der Arbeit?

von

Gibt Arbeit Sinn oder macht Arbeit krank? Über die Geschichte und Ursachen des Ausbrennens.
Von Helga Wolfgruber, zitiert aus der Volksstimme No.10 Oktober 2016

»Ein Mensch sagt, und ist stolz darauf,
er gehe ganz in seiner Arbeit auf.
Bald aber, nicht mehr ganz so munter,
geht er in seiner Arbeit unter.«
- Eugen Roth

Anfang der 70er-Jahre wurde Herbert Freudenberger, Arzt, Psychoanalytiker und Erfinder des Konzeptes von Burnout, in Amerika auf eine Problematik bei professionellen HelferInnen aufmerksam: »Wie ist es möglich, dass aus engagierten, aufopferungswilligen HelferInnen häufig unzufriedene MitarbeiterInnen – leicht reizbar, psychisch und physisch erschöpft – werden können?«

Seine Beobachtungen, belegt durch empirische Studien, begannen Ausbildungsinhalte an den Sozialakademien zu beeinflussen und so wurde vermehrtes Augenmerk auf psychohygienische Maßnahmen am zukünftigen Arbeitsplatz gerichtet. »Selbstfürsorgliches« Wahrnehmen der eigenen Leistungsgrenzen wurde Bestandteil professioneller Ausbildung. Angesichts vieler Arbeitsbereiche, in denen Menschen schwere körperliche Arbeit unter gesundheitsschädigenden Bedingungen leisten müssen, habe ich mich damals sehr privilegiert gefühlt, mir solche Fragen überhaupt gestatten zu können. Der kluge Wunsch eines schwedischen Sozialphilosophen, »ich möchte meine Arbeitskraft dort wieder gewinnen, wo ich sie verliere, nämlich am Arbeitsplatz«, erfährt für viele Menschen in ihrer Arbeitswelt leider keine Erfüllung.

Burnout war aber kein neues Phänomen, das nur in der Welt der HelferInnen zu finden war. Der deutsche Nervenarzt Wilhelm Erb stellte bereits 1884, in seiner Schrift »Über die wachsende Nervosität unserer Zeit« fest: »Durch den ins Unangemessene gesteigerten Verkehr, durch die weltumspannenden Drahtnetze des Telegraphen und Telephons haben sich die Verhältnisse in Handel und Wandel total verändert: alles geht in Hast und Aufregung vor sich, die Nacht wird zu Reisen, der Tag für die Geschäfte benützt, selbst die Erholungsreisen werden zu Strapazen für das Nervensystem.«

Diese Strapazen für das Nervensystem erhielten den Namen Neurasthenie und nach dem Zweiten Weltkrieg fasste man die Symptome neuer Belastungen durch Wiederaufbau und Wirtschaftswachstum unter dem Begriff Managerkrankheit zusammen. Betroffen waren damals vor allem Männer in leitenden Positionen. Für viele Frauen in der »leidenden« Position einer überforderten Reproduktionsarbeiterin und Teil der »Reservearmee des Arbeitsmarktes« wurde bei ähnlicher Symptomatik die psychiatrische Diagnose Depression gewählt …

»Helden der Arbeit« oder Kranke?

Burnout, das »jüngste« Leiden an der Arbeit, ist in keinem medizinischen Diagnosemanual als Krankheit erfasst. Vielleicht erlauben sich Menschen gerade deshalb leichter, sich ihr Leiden an Erschöpfung einzugestehen und sich dem Zwang zur Selbstoptimierung durch Krankschreibung zu entziehen. »Ich habe ja für etwas gebrannt«, »ich habe Leidenschaft und Engagement bewiesen«, »ich bin kein depressiver Deserteur vom Schlachtfeld Arbeitsplatz«.

Angesichts der herrschenden Leistungsideologie ist die Scham über den Verlust von Arbeits- und Leistungsfähigkeit bei vielen Menschen sehr groß. Aber das Eingeständnis, durch Fleiß und Arbeit (und nicht durch Krankheit) erschöpft zu sein, kann die Angst vor der Inanspruchnahme professioneller Hilfe vermindern und den kraftraubenden Prozess des Verbergen-Müssens unterbrechen. Schwäche darf dann sichtbar werden, wenn die zunehmende, realistische Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes es zulässt.

Seit den 80er-Jahren gibt es eine verwirrende Vielzahl von Burnout-Konzepten und die Flut von Ratgebern und Präventionsvorschlägen offeriert verunsicherten Hilfesuchenden Vorschläge zu schneller Konfliktlösung. Sie begünstigen dadurch eine nicht immer hilfreiche, weil oft angstmachende Selbstdiagnose. Vor allem aber setzen die Therapiekonzepte fast ausschließlich am Individuum an. Angebote zur »Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit« gehorchen oft der gleichen Überforderungslogik, die das Entstehen von Burnout begünstigt hat.

Spirale ins Out

Es ist ein weiter Weg von anfänglichem Engagement, Freude am oder über einen Arbeitsplatz, bis hin zu oft lebensgefährlicher geistiger, emotionaler und körperlicher Erschöpfung. Es gibt keine gesicherten Erkenntnisse über einen linearen Verlauf des Syndroms, wohl aber über gefährdete Personengruppen. Ausgeprägtes Pflichtgefühl, Gewinn von Lebenssinn ausschließlich durch Arbeit, Nichtbeachtung der individuellen Leistungsgrenzen, hohe Selbstansprüche oder ein überhöhtes Bedürfnis, die Ansprüche von anderen zu erfüllen – diese Faktoren setzen eine Spirale der Überforderung in Gang.

Arbeit wird »mit nach Hause« genommen, das »Abschalten« fällt schwer, erste Anzeichen von Erschöpfung werden mit Reizbarkeit oder dem Wunsch nach Dauerschlaf beantwortet und führen oft zu Alkohol- und Tablettenmissbrauch. Durch den sozialen Rückzug, der Aufgabe von Hobbies und von allem, was früher Freude machte, schafft man wenigstens noch ein automatenhaftes Funktionieren. Enttäuschung und Scham über das Nicht-erfüllen-Können eigener und fremder Ansprüche erhöhen den Leistungseinsatz, um dem Gefühl von Wertlosigkeit entgegenzuwirken. Die Dauerbelastung führt aber zu noch mehr Produktion des Stresshormons Kortisol und erhöht das Risiko für körperliche Erkrankungen. Spätestens dann, wenn man im Nicht-Gefühl des inneren Abgestorbenseins, bei innerer Leere und Depersonalisationsgefühlen angekommen ist, ist der Zustand von einer Depression nicht mehr zu unterscheiden. Dann kann der Prozess ohne fremde Hilfe meistens nicht mehr durchbrochen werden.

Neben persönlichkeitsabhängigen Faktoren, die durch bewusste und auch unbewusste Kräfte gestaltet werden, sind die Gründe für das Entstehen bzw. die Zunahme von Burnout aber (wieder) vorwiegend in den Anforderungen einer sich rasch verändernden Arbeitswelt und den ökonomischen-politischen Bedingungen zu suchen. Die Forderungen neoliberaler Leistungspolitik – Mobilität, Flexibilität, Fitness, Verfügbarkeit rund um die Uhr – bedeuten nichts anderes als »sei biegsam und angepasst«. Zugerichtet für die Anforderungen des »freien Arbeitsmarktes« verschärft sich »der Exzess der Arbeit und Leistung zu einer Selbstausbeutung und diese ist effizienter als Fremdausbeutung, denn sie geht mit dem Gefühl der Freiheit einher« (Byung-Chul Han).

In dieser (vermeintlichen) Freiheit, die neoliberale Politik verspricht und mit der gesellschaftliche Konflikte individualisiert werden (du schaffst das oder du bist selber schuld …), gedeiht als Teil der neuen Arbeitswelt das Prekariat. Es beraubt immer mehr Menschen einer verlässlichen, sicherheitsspendenden Lebensplanung und macht sie zu modernen Arbeitsnomaden. Bereits Pierre Bourdieu prophezeite 1997, dass die Prekarität als »Dauerzustand gewordene Unsicherheit« langfristig der Sicherung einer neoliberalen Herrschaft dienen würde. Immer mehr Menschen finden nicht mehr die Kraft, für den permanent geforderten, kräfteraubenden »Neustart«.

Als Arbeit zur Tugend wurde

Es würde zu weit führen, sich mit den antiken Philosophen zu beschäftigen, denen »Erwerbsarbeit«, sprich Sklaverei, noch als unehrenhaft und würdelos erschien. Aber Stellenwert und kulturelle Bedeutung von Arbeit ist für Menschen aller Epochen das zentrale Element ihrer Lebensgestaltung. Dazu der ungarische Nobelpreisträger Imre Kertész: »Die Arbeit ist der einzig funktionierende und wirksame Gott, dem die Menschheit, verhohlen und unverhohlen, einmütig huldigt.« Arbeit als Religion und/oder Ersatz?

Vielleicht haben das globale Wettrennen, der Effizienzwahn in der modernen Arbeitswelt ihre Wurzeln paradoxerweise schon im »Paradies«? Gemäß der Bibel ist die Arbeit Strafe dafür, dass Adam und Eva in den Apfel der Weisheit gebissen haben. Die Folge davon war die Vertreibung. Seither müssen Menschen ihren Unterhalt im Schweiße ihres Angesichtes verdienen. Und wir in den – inzwischen sauren – Apfel beißen.

Später haben die Protestanten Calvin und Luther ihren Jüngern rastloses Arbeiten als Therapieprogramm gegen die Angst vor der Verdammnis verschrieben. Die Bezeichnung von Arbeit als »Beruf« ist in bewusster Anlehnung an göttliche »Berufung« entstanden. Zwischen protestantischer Ethik mit geforderter Askese und der Entstehung des modernen Kapitalismus sieht der Soziologe Max Weber einen engen Zusammenhang.

Die ideologische Überhöhung der Arbeit, wie sie auch von den ArbeiterInnen- und Gewerkschaftsbewegungen des beginnenden 19. Jahrhunderts betrieben wurde, veranlasste den Sozialisten Paul Lafargue (Schwiegersohn von Karl Marx) zu der Feststellung: »Eine seltsame Tollheit beherrscht die Arbeiterklasse aller Länder, in denen die kapitalistische Zivilisation regiert. Diese Tollheit ist die Liebe zur Arbeit, die rasende, bis zur Erschöpfung der Individuen und ihrer Nachkommenschaft gehende Arbeitssucht. Statt gegen diese geistige Verirrung anzukämpfen, haben die Priester, die Ökonomen und Moralisten die Arbeit heilig gesprochen.«

Arbeit ist zu einem Götzen geworden, den wir anbeten und der zum beinahe exklusiven Sinnstifter in unser aller Leben geworden ist. Menschen werden zu Getriebenen, die ihren moralischen Wert durch ihre Arbeit beweisen und dabei »Kollateralschäden« in Kauf nehmen bis zur Bedrohung der Gesundheit, Verlust befriedigender Sozialbeziehungen und Zerstörung der Natur.

Kritik an der Arbeit

Diese Kritik richtet sich freilich nicht an die »Arbeit an sich«, sondern an das Diktat der Ökonomie, die im Interesse von Profitsteigerung in beinahe alle Poren sozialen Lebens eindringt und Lebensqualität auch an vielen Arbeitsplätzen verhindert. Und Politik als Korrektiv hat ihre Gestaltungsmacht weitgehend an eine neoliberale Ideologie abgegeben. Arbeit ist zur Organisation menschlichen Überlebens Notwendigkeit, sie ist Sinnstifterin, sie lässt Menschen sich als Teil einer Gemeinschaft fühlen, verleiht Anerkennung und Zuwendung, macht Solidarisierung möglich. Lohnarbeit ist nur ein – fremdbestimmter – Teil von dieser. Aber solange der Mythos von Produktivitätssteigerung und grenzenlosem Wirtschaftswachstum als Garanten zur Beibehaltung unseres Lebensstandards nicht zerstört ist, solange an den Grundfesten unseres maroden Systems nicht stärker gerüttelt wird, wird das Leben von immer mehr Menschen von Erschöpfung gekennzeichnet sein.

Bertrand Russell weist im »Lob des Müßiggangs« darauf hin, dass durch die modernen Produktionsmethoden die Möglichkeit gegeben wäre, dass alle Menschen behaglich und sicher leben könnten. »Aber«, so schreibt er, »wir haben es statt dessen vorgezogen, dass sich manche überanstrengen und die anderen verhungern. Bisher sind wir immer noch so energiegeladen arbeitsam, wie zur Zeit, da es noch keine Maschinen gab; das war sehr töricht von uns, aber sollten wir nicht auch irgendwann einmal gescheit werden?« Was ist von seiner Hoffnung geblieben? Gescheiter sind wir noch nicht geworden, aber mehr und mehr Menschen brennen aus.

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