ESSAY: Kunstloses Brot

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Was als lang ersehnter Fortschritt inszeniert wird, ist das Abwandern der Kunst in Social-Media-Plattformen.

ELIAS HIRSCHL erzählt, dass es sich hierbei nicht um eine bloße Änderung der Form, in der Kunst produziert wird, handelt, sondern um einen fundamentalen Einschnitt in die Lebensrealität von Künstler*innen und damit zugleich in die Lebensrealität ihrer Konsument*innen.

»Neu« scheint eines von Sebastian Kurz Lieblingswörtern zu sein. Der neue Stil. Die neue Volkspartei. Die neue Normalität. Das ist einerseits ein Marketingtool, einem morschen Ast der Geschichte einen neuen, türkisen Anstrich zu verleihen, aber andererseits ist das vermutlich speziell im Falle der »neuen Normalität« auch der Versuch, an eine völlig normale menschliche Neigung zu appellieren: den Wunsch, einer Krise etwas Positives abgewinnen zu wollen. Scheitern als Chance, was dich nicht umbringt, macht dich stärker, etc. Man will sich irgendwie nicht eingestehen, dass etwas auch einfach mal nur schlecht sein kann.

Und dann wird eben positiv hervorgehoben, wie die Menschen jetzt wieder ihre Spiritualität entdecken, zu Hause meditieren, Yoga-Challenges machen, Bananenbrotrezepte verfeinern, einfach mal wieder zu sich selbst finden und die täglich neu im Netz aufploppenden Kultur- und Unterhaltungsangebote in Form von Livestreams, virtuellen Museums-Rundgängen und freigeschalteten Mediatheken genießen. Meine Timelines sind seit Wochen geflutet von neuen digitalen Erzeugnissen aller möglicher Kunstsparten sowie neuen Ratgebern, die einen zu den relevantesten und am besten produziertesten Anbietern verweisen, auf dass man seine wertvolle Online-Me-Time nur bloß nicht verschwendet – und ich weiß, von was ich rede, schließlich schreibe ich diesen Text zwischen vier Stunden Hydraulic-Press-Videos und vier Stunden Ancient-Aliens-Folgen. Aber wenn dann in all dem Trubel ein ORF-Artikel mit der Überschrift »Kulturszene erblüht im Netz«1 veröffentlicht wird, läuft es mir da doch recht kalt den Rücken hinunter. Denn wie in dem Artikel besteht die öffentliche Kunstwahrnehmung, vor allem vonseiten der Regierung, aber auch vieler anderer Menschen, offenbar in erster Linie und manchmal ausschließlich aus großen Theatern, Opernhäusern und Museen. Der Fokus liegt zudem meistens auf der Konsument*innenseite. Wie es im ORF-Artikel heißt: Man könne nun auch im Internet wieder die »Atmosphäre eines Jazzclubs […] erahnen«, es wird auf virtuelle Führungen und Ähnliches verwiesen und darauf, dass »Autorinnen und Autoren« jetzt auch »neue literarische Formen abseits des gedruckten Buches« erproben.

Zwangsdigitalisierung und Fortschritt

Das vermittelt insgesamt ein Bild des Fortschritts, so als wäre es schon längst an der Zeit gewesen, dass all diese Veranstalter*innen und Künstler*innen und vor allem die Autor*innen sich endlich vom eingestaubten Papier und physischen Kontakt abwenden, um endlich ins Internet abzuwandern, endlich die Welt 4.0 zu entdecken und sich von so martialischen, abstrus rückständigen Kunstformen wie dem gedruckten Wort zu distanzieren.

Nicht, dass das jetzt falsch verstanden wird: Ich finde es großartig, wenn auf all diese Angebote im Internet hingewiesen wird und diese überpositive Darstellung hilft möglicherweise sogar, neue Zuschauer*innen für diese Art von Internet-Kunst zu gewinnen, aber gleichzeitig sollte auch klar sein, dass nicht alle Autor*innen die letzten Jahrzehnte darauf gewartet haben, dass sie endlich von einer Pandemie am Auftreten gehindert werden, damit sie sich mal dazu überwinden können, in die utopische Welt des Streamens vorzustoßen. Nicht alle Schreibenden können gut vorlesen. Nicht alle Schreibenden können und wollen Videos aufnehmen, schneiden, hochladen und bewerben. Nicht alle Schreibenden wollen sich selbst vermarkten. Nicht alle wollen Youtuber*innen werden. Dieses Ausweichen ins Internet ist keine langersehnte Erweiterung des Buches, sondern eine Notlösung, die sich viele auch aus guten Gründen nicht leisten können oder wollen.

Im Grunde mussten viele Künstler*innen gezwungenermaßen einfach den Job wechseln. Und nicht alle haben eine gute Kamera, nicht alle wollen darauf hinweisen, dass man subscriben und auf den Patreon-Link in der description below klicken soll. Ich empfinde es schlicht nicht als positive Entwicklung, von öffentlich geförderten Lesungen auf Online-Almosen umzusteigen.

Das soll hier bitte auch keine Boomer-Anti-Internet-Tirade werden à la Heinz Sichrovsky beim diesjährigen Bachmannpreis. Ich will nur aufzeigen, dass Kunst und Streamen eben doch komplett unterschiedliche Berufe sind, die sich nicht isomorph ineinander übertragen lassen.

Von der finanziellen Möglichkeit einer »Zeit für sich«

Zugegeben gab es ein paar Versuche von öffentlicher Seite, die Verluste der Kunst- und Kulturszene auszugleichen: Die Stadt Wien hat ihren Fördertopf aufgestockt und ein Arbeitsstipendium von bis zu 3000 Euro zur Verfügung gestellt, doch auch dieser war recht schnell erschöpft und diejenigen, die die Förderung erhalten haben, haben das Geld auch erst mit starker Verzögerung bekommen.

Zudem konnte man nicht für Projekte einreichen, die schon einmal abgelehnt wurden. »Abgelehnt« bedeutet in dem Sinne jedoch nicht, dass sie generell als »nicht förderungswürdig« eingestuft wurden. Beispielsweise werden jährlich exakt vier Elias-Canetti-Stipendien für Literatur von der Stadt Wien vergeben. Hat man sich dafür schon einmal mit einem Projekt beworben und ist in der Auswahl zwar unter die Top 5, aber nicht in die Top 4 gekommen, gilt das Projekt als abgelehnt und man darf es laut Richtlinien nicht mehr für das Wiener Arbeitsstipendium einreichen.

Ebenfalls erhielt man kein Stipendium, wenn man studiert, Notstandshilfe, Geld vom AMS oder Mindestpension bezieht, oder anderweitig Geld durch nicht-künstlerische Arbeit verdient, was quasi alle Menschen ausschließt, die sich notgedrungenermaßen einen Job suchen mussten, weil sie ihrer künstlerischen Tätigkeit durch die Auftrittsausfälle nicht mehr nachkommen konnten.

Dementsprechend wirkt es recht zynisch darauf hinzuweisen, dass man während der Quarantäne jetzt endlich mal Zeit für sich hat. Kunstschaffende existieren nicht in einem Vakuum. Viele haben schlicht händeringend um Notlösungen gerudert, sind auf Spenden und Almosen umgestiegen, haben sich irgendwelche Nebenjobs gesucht, während sie sich in vielen Fällen gleichzeitig mit Homeschooling, Kinderbetreuung und sonstigen plötzlich aufgetretenen Erschwernissen herumschlagen müssen. Da mangelt es vielen schlicht an Zeit und Energie, sich jetzt auch noch eine völlig neue Karriere als Youtube- oder Twitch-Streamer*in aus dem Boden zu stampfen. Zudem mir der Begriff »You tuber« immer wieder kalte Schauer durch den Körper jagt; bei der Vorstellung, dass der Buchmarkt sich irgendwann genauso monopolisieren könnte wie der Online-Video-Markt und man sich anstatt als Schrifsteller*in irgendwann nur noch als »Rowohltler*in« bezeichnet.

Alle Autor*innen, die das Pech hatten, direkt in den Frühling hineinzupublizieren, sahen sich mit einer massiven Absagewelle konfrontiert, mit aufgeschobenen Veröffentlichungen, mit Druck-Verzögerungen und ausfallenden Buchverkäufen. Dadurch, dass Autor*innen ihr Geld nun mal meistens nicht regelmäßig, sondern spezifisch in der Phase nach einer neuen Publikation verdienen, ist so ein Gagenausfall nicht einfach nur fehlendes Geld für einen Monat, sondern es brechen Einkünfte weg, die einen sonst noch durch das nächste Halbjahr getragen hätten.

Ein weiteres Pech, das vor allem die Debütant*innen trifft, die im Frühling 2020 ihr erstes Werk veröffentlicht hätten, ist, dass sich manche erst dieses Jahr bei der Literar-Mechana, der Österreichischen Verwertungsgesellschaft für Literatur, angemeldet haben.

Die Literar-Mechana hat aus meiner Sicht wirklich die unbürokratischste und schnellste Soforthilfe für Autor*innen bereitgestellt, um die Gagenausfälle auszugleichen. Leider konnten diese Soforthilfe aber nur Künstler*innen erhalten, die sich schon vor 2020 bei der Verwertungsgesellschaft angemeldet haben. Daher fallen die meisten Debütant*innen, die jetzt ihre erste Lesereise anstehen gehabt hätten, komplett durch das Raster. Mit der zweiten Hilfsphase war zwar auch eine Hilfe für die erst 2020 Angemeldeten eingeplant, jedoch nur in der Höhe von 500 Euro, was einen jetzt auch nicht wahnsinnig lang über Wasser hält.

Genauso hilflos wie viele der öffentlichen Stellen mit den Notfallhilfen waren, war die Regierung auch mit den Lockdown-Öffnungen, deren Angaben sich mehrmals änderten und mit den Sicherheitsabständen und der Zuschauer*innenbeschränkungen viele Veranstaltungen nicht durchführbar oder finanziell nicht profitabel machten. Das mag medizinisch sinnvoll sein, kann in der Praxis aber oft nicht umgesetzt werden. Statt halbfertiger Öffnungsvorschläge hätte es da lieber noch länger unkomplizierte, schnelle und langfristige Finanzhilfen gebraucht. Die Kunstszene in Österreich verlangt nichts Aufwendiges, sie verlangt keine Sonderbehandlung, sie verlangt lediglich, ihrer Arbeit nachgehen zu können und, dass das Geld auch tatsächlich bei ihnen ankommt und nicht wieder mit 5,2 Millionen Euro bei der KTM Motohall landet.2

How to bake kunstloses Brot

In der singapurischen »The Sunday Times« ist »Artist« auf Platz 1 der nicht-systemrelevanten Jobs gewählt worden.3 Und zugegeben, vielleicht wären wir jetzt nicht alle sofort gestorben, wenn es plötzlich von einem Moment auf den anderen überhaupt keine Kunst mehr gegeben hätte, aber man fragt sich schon, was man so auf Dauer ohne Bücher, Filme, Serien, Musik, Ausstellungen und Veranstaltungen mit der Zeit anfangen soll, die man jetzt endlich hat.

Vor allem bei der Literatur, die immer dann vom Staat hochgehalten wird, wenn jemand trotz der inländischen Ablehnung überregionalen Erfolg hat, sollte man annehmen, dass es lohnenswert wäre, sie am Leben zu erhalten. Sonst kennt man Österreich irgendwann nicht mehr für Jelinek und Bachmann, sondern für perfektionierte Sauerteig- und Bananenbrotrezepte, Ischgl und Ibiza.

Und um mit einem saudummen Wortwitz abzuschließen, den ich mir bis jetzt verkniffen habe: Wenn es nur brotlose Kunst gibt, gibt es bald auch nur noch kunstloses Brot.

Mahlzeit.

1 https://orf.at/kulturjetzt/stories/3158546/

2 https://kontrast.at/ktm-kulturfoerderung-oberoesterreich/

3 https://www.classicfm.com/music-news/times-newspaper-survey-artists-non-essential-jobs/

Elias Hirschl wurde 1994 in Wien geboren, ist Romanautor, Spoken-Word-Künstler und Musiker. Zuletzt erschienen der Roman »Hundert schwarze Nähmaschinen« (2017, Jung und Jung) und die Kurztextsammlung »Glückliche Schweine im freien Fall« (2018, Lektora).

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Gelesen 4159 mal Letzte Änderung am Donnerstag, 03 September 2020 08:57
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