Thema Parallelgesellschaften Volksstimme Redaktion Orig. Foto: Yogandra Joshi CC BY 2.0 / Flickr
01 September

Thema Parallelgesellschaften

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Gerade jetzt, kurz vor den Nationalratswahlen, wird besonders von rechts die Warnung vor den »Parallelgesellschaften« ins Spiel gebracht, und die Law-and-Order-PolitikerInnen (Namen der Redaktion bekannt) überschlagen sich geradezu mit Forderungen und Vorschlägen, wie denn die »Leitkultur« wiederhergestellt und gefestigt werden könnte. Wir haben uns deshalb für den Volksstimme-Blog in einem theoretischen und einem (nicht ganz ernst gemeinten) mathematischen Beitrag ein paar kurze Gedanken zu dem Thema gemacht ...


Die Gesellschaft der Spalter

Über den perfiden Begriff der »Parallelgesellschaft«.
Von Karl Reitter


Wenn wir Wikipedia Glauben schenken dürfen, dann wird der Begriff »Parallelgesellschaft« seit gut einem Jahrzehnt zunehmend in der politischen Debatte verwendet. Er fungiert als Befund und Drohung zugleich. Der Befund lautet: Insbesondere in migrantischen Kreisen hätten sich abgeschottete Parallelgesellschaften entwickelt, die sich in Sprache, Kultur und Werten von der Mehrheitsgesellschaft unterscheiden würden. Die Drohung lautet: Diese Parallelgesellschaften würden unsere Kultur und Werte gefährden. Sei es, dass aus ihren Kreisen gewaltbereite Terroristen hervorgehen würden, sei es, dass sie »irgendwann« die Mehrheitsbevölkerung darstellen könnten. Als Bedrohung genügt aber oft schon die Vermutung, dass sie halt »anders« sind und es auch bleiben wollen.

Von Minderheiten und Volksgruppen

Das eigentlich Perfide an diesem Begriff stellen weniger die klischeehaften und verallgemeinerten Vorurteile gegen über der Lebenswirklichkeit von MigrantInnen dar. Es gibt klarerweise Phänomene, kulturelle und sprachliche Eigenständigkeit zu bewahren. Das praktizieren Minderheiten weltweit und oftmals werden sie darin von staatlicher Seite unterstützt. So gibt es in Österreich ein Volksgruppengesetz, das den sprachlichen und kulturellen Weiterbestand unserer slowenischen und kroatischen Minderheiten sicherstellen soll. So lautet es im § 1 dieses Gesetzeswerkes: »Ihre Sprache und ihr Volkstum sind zu achten.« Aber unsere Volksgruppen haben nochmals Glück gehabt, sie gehören letztlich zu uns – obwohl es manche Kreise in Kärnten anders sehen.

Der Begriff »Parallelgesellschaft« nimmt die Tatsache des Wertepluralismus nicht zur Kenntnis und phantasiert eine einheitliche europäische Kultur, die es nicht gibt und nie gab.

Das Perfide am Begriff der Parallelgesellschaft ist die gleichzeitig unausgesprochene Unterstellung einer homogenen, einheitlichen Mehrheitsgesellschaft, mit geteilten Werten, Sitten und kulturellem Verständnis. Tatsächlich handelt es sich dabei um einen Wunschtraum konservativer und reaktionärer Kräfte, der auch aggressiv gegen Lesben, Schwule, FeministInnen und schlichtweg Andersdenkende durchgesetzt werden soll. Dieser Begriff nimmt die Tatsache des Wertepluralismus nicht zur Kenntnis und phantasiert eine einheitliche europäische Kultur, die es nicht gibt und nie gab. Selbst die bürgerlich-deskriptive Soziologie erkennt, dass wir längst in einer kulturell-pluralen Gesellschaft leben, die in vielerlei, teilweise überlappende, teilweise sich ausschließende Milieus gegliedert ist.

Das Ausschließende

Der Begriff der Parallelgesellschaften setzt dagegen ein ausschließendes »wir« gegen ein verachtetes »sie«. Die moralischen und kulturellen Konflikte in unserer Gesellschaft werden so vertuscht und kleingeredet. Wer den Ausdruck Parallelgesellschaft in den Mund nimmt, räumt sich selbst zugleich die Definitionsmacht ein, was denn nun eigentlich europäische Werte zu sein haben und wer davon abweichen würde. Diese Rede zielt nicht nur gegen MigrantInnen, sie ist auch ein probates Mittel, Menschen und Gruppen an den Rand der Gesellschaft zu drängen, ihnen moralische und kulturelle Defizite und extremistische Gelüste zu unterstellen. Der Begriff der Parallelgesellschaft spaltet, wertet bestimmen Menschen auf und andere ab. Er ist mit aufgeklärter Humanität nicht vereinbar.




Die Geometrie der Rechten

Ein nicht ganz ernst gemeinter Exkurs in die Mathematik.
Von Michael Gruberbauer


Dass die Perspektiven der Rechten verzerrt sind, lässt sich unter anderem auch mathematisch zeigen. Zum Beispiel anhand des Begriffs »Parallelgesellschaften«, der als Schreckensbild einer Bevölkerung heraufbeschworen wird, die nicht (»mehr«) der Idee einer homogenen Kultur oder eines homogenen Volkes entspricht.

Damit ist nicht gemeint, dass der Alltag eines Bergbauern in Osttirol mit dem der Investmentbankerin in Wien (natürlich beide echte ÖsterreicherInnen!) etwa so viel gemein hat, wie eine Weinrebe in Kalifornien mit einem Alligator in den Everglades. Viel eher ist gemeint, dass so manche Menschen mit »brauner« Haut und »fremdländischem« Aussehen die Frechheit besitzen, keinen Alkohol zu trinken und statt Andreas Gabalier lieber orientalische Musik zu hören. 24 Intervalle statt zwölf Halbtonschritte pro Oktave (oder im Fall von Andreas Gablier auch etwas weniger), das kann schon überfordern, das muss nicht sein. Und wenn sie dann statt an das eine Buch, das ca. 135 n. u. Z. entstanden ist, an ein anderes Buch glauben, das ein paar hundert Jahre später geschrieben wurde, scheint das Ende der Welt nicht mehr fern. Alles aber eine Frage der Perspektive, wie zu zeigen ist.

Mit Lichtgeschwindigkeit durchs Bierzelt

»Parallel« ist ein Begriff, der das Verhältnis zweier Geraden beschreibt. In der sogenannten euklidischen Ebene, die zum Beispiel dadurch gekennzeichnet ist, dass die Winkelsumme eines Dreiecks immer 180 Grad beträgt, schneiden sich zwei parallele Linien nicht, sie laufen immer nebeneinander her, im gleichen Abstand. Erst durch den Wechsel der Perspektive, von der Ebene in den Raum, treffen sie sich an einem unendlich fernen Punkt am Horizont.

Die euklidische Geometrie ist aber nicht die einzige. Auf einer Kugel, oder einem Geoid – wie die Erde eines ist – gilt sie eigentlich gar nicht, oder nur als behelfsmäßige Annäherung auf engstem Raum. Zwei Geraden, die in Salzburg nach Norden verlaufen, treffen sich spätestens am geographischen Nordpol, wo es überall nur nach Süden geht (!), scheinbar parallele Linien, die von West nach Ost, oder von Ost nach West verlaufen, sind plötzlich nicht mehr gleich lang. Auf den Boden gemalte Dreiecke haben Winkelsummen von mehr als 180 Grad, die kürzeste Verbindung von London nach New York ist keine gerade Linie, und wer sich im Atlantik, westlich von Marokko, durch den Planeten gräbt, kommt irgendwann in Sydney, Australien, wieder heraus, wo die Menschen trotzdem nicht kopfüber stehen. Kurz: Es ist das reinste Chaos!

Wer sich mit Geschwindigkeiten nahe der Lichtgeschwindigkeit bewegt, wird sich selbst als Deutschnationaler im kulturell homogenen Bierzelt in Kärnten nur schwer orientieren können ...

Und dann wäre da noch das eigentliche Universum, das ohnehin einer ganz anderen Metrik gehorcht. Albert Einstein konnte das mit seiner speziellen und allgemeinen Relavititätstheorie zeigen. Große Massen krümmen den Raum selbst – die Geometrie wird da ziemlich kompliziert. Ein Stern, der eigentlich von uns aus gesehen hinter der Sonne steht, kann zum Beispiel während einer Sonnenfinsternis neben der Sonne sichtbar werden, weil das Licht des Sterns von der Schwerkraft der Sonne gebogen wird – der sogenannte Gravitationslinseneffekt. Und wer sich mit Geschwindigkeiten nahe der Lichtgeschwindigkeit bewegt, wird sich selbst als Deutschnationaler im kulturell homogenen Bierzelt in Kärnten nur schwer orientieren können: Uhren laufen langsamer, Längen verkürzen sich, der reinste LSD-Trip!

Nach rechts und nach oben?

Wer also mit Begriffen der euklidischen Geometrie um sich wirft, redet nicht wirklich von der Realität, sondern von einer sehr simplen Interpretation derselben. Von Dingen, die es nur formal gibt oder die es auf Papier oder dank einer sehr begrenzten Perspektive zu geben scheint. Aber Perspektiven lassen sich ja ändern. Hoffentlich. Klar, Rechte werden durch mathematische Überlegungen nicht gleich zu Linken werden. Wenig sinnvoll wäre es auch, sie zum Pauken der Relativitätstheorie zu verdonnern. Es wäre aber schon ein guter, ein erster kleiner Schritt auf dem Weg zur Realität, aus der Ebene, wo die Achsen nur nach rechts und nach oben zeigen, auszubrechen und statt auf die flache, euklidische Landkarte Österreichs auch einmal auf den runden Globus zu blicken. Ist der erste, große Schock dann erst einmal überstanden, könnte man sich dann vielleicht auch mit den eigentlichen Menschen und ihren tatsächlichen Problemen befassen.

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